Schreibverbote, literarische Exkommunikationen und Strategien des Verzichts – durchexerziert am eigenen Leib. Ulrich Horstmann (1949-2004) war ein Schwarzarbeiter und stiller Störenfried des deutschen Literaturbetriebs. „Das Untier“, für das er den Kleist-Preis erhielt, ist seine nachdrücklichste Visitenkarte. (Klappentext zu „Das Untier“. Warendorf 2004.) * * * Trauen Sie Ihren Ohren nicht! Was hier so miles […]
„Man verkommt unmerklich, wenn man älter wird.“ – Nach dem kollektiven rückt verstärkt der eigene Verfall in den Blick. In den Knochen die Paläoanthropologie. Die Sammler und Jäger krepierten, wie man hört, mit Fünfundzwanzig, Sechsundzwanzig, Siebenundzwanzig. Ein Methusalem, der die Dreißig überschritt. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Irgendwann im dritten Jahrzehnt erfolgt […]
Teils aus einem auf den Kopf gestellten Darwinismus hervorgegangener, teils am Habitus früher Ethnien geschulter Topos der Dezivilisierung und Unterschreitung des kulturellen „Niveaus“. Mit der einsetzenden Dunkelheit nimmt die Verwandlung ihren Anfang. In den Ecken zuerst, im Schatten der Aktenschränke, unter den Füßen. Aber dann ist es schon überall. Lautlos schiebt sich der nackte […]
In Horstmanns Büchern fährt man mit Vorliebe Auto. Unfälle inklusive. Ausgedörrte Felder mit langen Reihen halbvertrockneter Pflanzen. Wir fuhren genau auf die Sonne zu. „Verflucht heiß“, sagte Stainer. Der Asphalt glitzerte wie die Wasseroberfläche eines schnurgeraden Kanals. Immer wenn der Wagen einige leichte Querrinnen passierte, schaukelte er sacht wie ein schwerfälliges Boot. Ich lehnte […]
Von der Trunksucht. Unter literaturhistorischer Perspektive wie im Selbstversuch. Urplötzlich das Bedürfnis nach Alkohol. Heute morgen läßt der Zensor mit sich reden. Steintal geht zu einem der Stände und verlangt ein Fläschchen Magenbitter. Zwei Mundvoll. Der kurze stichelnde Kontakt mit der Parodontose. Bauchthermik. Ein hartnäckiger süßer Nachgeschmack. Aus: Steintals Vandalenpark. Erzählung. Obertshausen 1976. * […]
Diese Heimatadresse dokumentiert Horstmanns Lust an Sprachwitz und Doppeldeutigkeiten. Hart an der Grenze des so genannten „guten Geschmacks“. Eskalation: Hiroshima – Euroshima – Terrasaki. Ein echter Patridiot. Menstruations-Miezen. Da sind Wörter, von denen könnte man glauben, nicht der der Mensch, sondern die Natur selbst habe sie in einem lichten Moment geprägt, so etwa: Das […]
Jack London und Philip Larkin haben es vorgemacht: Wer als Literat auf sich hält, schafft sich beizeiten ein Totemtier an. Der Läufer passiert den unbeschrankten Bahnübergang. Das erste Bauernhaus versteckt sich noch hinter einer Bauminsel. Schweinemast. Die ausgespülten Fäkalien stauen in einem offenen Graben. an bedeckten Sommertagen flitzen hier die Schwalben zentimeterdicht über den […]
Die „schöne Kunst der Kopfhängerei“ ist für Horstmann das genaue Gegenteil von Trübseligkeit und Depression; sie ist eine emotionsgefärbte Form der Klarsicht. Die Qual ist endlich geworden, die „Wunde des Nichts“, an der der Melancholiker laboriert, läßt sich auf Knopfdruck schließen, die Menschenleere, ehedem nur ausdenkbar, steht bombensicher ins Haus. Aus: Der lange Schatten […]
Pornographie und Prostitution. Ein Lieblingsthema Horstmanns, intoniert in bisweilen drastischen Tönen. „Wohnt hier eine, die billig ist?“, fragte Stainer. Der Mann blinzelte verbissen ins grelle Licht. Ich gab ihm Geld. Er schob es hastig in die Tasche. „Na“, sagte Stainer. „Es gibt eine“, sagte der Tankwart, „wohnt im nächsten Dorf – zehn Kilometer.“ Stainer […]
Unartigkeiten über die Zunftgenossen Wer ein Gedicht liebt, soll es den Philologen abkaufen. Vom Philologiestudium: Diejenigen, die nach vielen Mühen den Tanz ums Goldene Kalb der Literatur endlich im Menuettschritt durchführen können, bekommen das Staatsexamen und dürfen ihren Schülern anschließend die Götzenpolka beibringen. Eine akademische Karriere: Er hat die Unzucht mit Abhängigen aufgegeben und […]
Vom Eindringen der Literatur in die (Literatur-)Wissenschaft Eine künftige anthropofugale Kunsttheorie wird (…) das späte 19. Jahrhundert aus seiner Randständigkeit befreien, ihm eine neue, nicht länger marginale Stellung zubilligen und (…) jene denunziativen Qualitäten abbauen, die den Begriffen „Ästhetizismus“ und „Dekadenz“ aus orthodoxem Blickwinkel immer noch anhaften. Aus: Ästhetizismus und Dekadenz. Zum Paradigmenkonflikt in […]
Wider die Missverständnisse. Ironische Selbstkommentare und bierernste Erklärungsversuche. Wer etwas über die Vorgeschichte unserer Gattung erfahren möchte, der geht in ein Museum. Hier wird die Vergangenheit anschaulich – in Form von Schmuck und Waffen, von Panzerhemden und Bauernkitteln, von Götterstatuen und Menschenknochen. Wer etwas über die Nachgeschichte unserer Gattung wissen möchte, der ist auf […]
Visionen eines befriedeten, ergo „vermondeten“ Planeten VERSONNEN auf feinädrigen blättern kugelt der tau in den tropfen gebrochenes sich vertausendes licht SONNENAUFGANG von den rippen verbläst der staub ein hauch geht durch die flußtäler und rötet die steine am grund nach diesem SONNTAG ist der mond für immer zum spiegel geworden in der letzten kopernikanischen […]
Von der anthropofugalen Poesie zur Beinahe-Katastrophe Im Jahre 217 nach der von den Überlebenden „GROSSE VEREINFACHUNG“ genannten nuklearen Katastrophe publiziert der Hofdichter Alraych einen alten Text mit dem Titel DIES CANIS CEREBRALIS oder HIRNHUNDSTAGE. Dieser Text soll nach seinen Ausführungen aus den 70er Jahren unseres Jahrhunderts stammen, ist uns allerdings in eben der Alraych-Ausgabe […]
Doppelgänger – mal als Figuren lustvoller Ich-Entgrenzung, mal nicht von dieser Welt Der Rückzug aus dem schlafenden Körper in die äußerste Ecke des Schädels, unter dem dieses störrische Hirn wie jede Nacht seinen Hexensabbat abhielt – delirierend, fusionierend, sich entladend – vollkommen unbezähmbar. Das war keine Rehabilitationsmaßnahme, das war Folter. Womit hatte es das […]