Peter Richter: Die Apokalypse in unseren Köpfen (2022)

Angst vor Atomkrieg

 

Die Vorstellung der nuklearen Vernichtung galt in der Kultur bereits als weitgehend abgeschrieben. Das hat sich geändert. Was wir von Nena, Dr. Seltsam, dem Terminator und Professor Horstmann lernen können.

 

Neulich erst, kurz vor dem Krieg, noch mal „Terminator 2“ angeschaut. Ganz vergessen, dass darin auch gezeigt wird, wie ein Atomschlag Los Angeles trifft: Eben steht da noch ein Kinderspielplatz, im nächsten Moment gibt es eine Feuerwelle und zerglühende Skelette. Der Film kam 1991 raus, und was darin nachher als inhaltlich wie ästhetisch zukunftsweisend galt, dass er in eine dieser cineastischen DVD-Kollektionen aufgenommen wurde, war das quecksilbrige Morphing zwischen Mensch und Maschine. Die nukleare Vernichtungsvision galt dagegen als thing of the past, als das Ende einer Filmtradition, die seit Stanley Kubricks „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ eine üppige, nun aber welke Blüte gehabt hatte.

Das ist seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Atomwaffendrohungen gegen die Nato anders.

„Warum hat der Dritte Weltkrieg nicht stattgefunden?“, wollte der Gießener Anglist Ulrich Horstmann zwanzig Jahre später wissen, und die Antwort hat er 2012 in dem Buch „Abschreckungskunst – Zur Ehrenrettung der apokalyptischen Phantasie“ (Fink Verlag) gegeben: „Die entsprechend trostlose, doch fieberhafte und multimediale Ausmalung des atomaren Weltuntergangs, die Welle (post)apokalyptischer Phantasien in den Romanen, Filmen, Theaterstücken, Songs insbesondere der 1970er und 1980er Jahre“, so ging seine These, „hat ihn verhindert.“

Es war ein Buch, das man damals interessant fand, aber dann erst mal in den Schrank stellte. 2012 war die Angst vor einem Atomkrieg deutlich fern. Sein Buch habe so gut wie keine Resonanz gefunden, erzählt Horstmann, der inzwischen emeritiert ist, am Telefon. Dabei seien die Atomsilos auch damals gut gefüllt gewesen. Es habe sich nur niemand dafür interessiert.

Auch das ist inzwischen entschieden anders. Und so wenig Aufmerksamkeit Horstmann 2012 für seine kulturhistorischen Untersuchungen zur apokalyptischen Fantasie fand, so viel Aufregung hatten übrigens seine eigenen apokalyptischen Fantasien in den frühen Achtzigern noch erregt. Horstmanns Essay „Das Untier“ war eher eine literarisch als wissenschaftlich angelegte Provokation, nämlich die Behauptung, dass die Menschheit untergangssüchtig sei und im Atomtod Erlösung suche.

Das Buch ist ein immer wieder aufgelegter Longseller. Der dunkle Hautgout von Post-Punk und Wave, den man da herausschmecken kann, ist kein Zufall, sondern vielmehr Zeichen seiner Aktualität: 1983 kam das „Untier“ heraus. Es ist dasselbe Jahr, in dem Nena mit dem Atomkriegssong „99 Luftballons“ einen weltweiten Superhit hatte. Sein Komponist Uwe Fahrenkrog-Petersen hat gerade erst im SZ Magazin erzählt, mit welcher traumwandlerischen Treffsicherheit der Song damals zustande kam. Denn, was weder Nena noch Horstmann wissen konnten: Es war nun mal das Jahr, in dem – wie die Fernsehserie „Deutschland 83“ noch einmal anschaulich in Erinnerung gerufen hat – wegen eines fehlgedeuteten Nato-Manövers in Westdeutschland die Atomraketen offensichtlich so kurz vorm Einsatz standen wie seit der Kubakrise nicht mehr.

Was in der BRD Emo-Schocker wie „99 Luftballons“ waren, hieß in der DDR: „Briefe eines toten Mannes“

Für Horstmanns Studie über die „Abschreckungskunst“ musste die Zeit erst noch reifen, und das ist, wie man nun leider sagen muss, in den jüngsten paar Wochen sogar in Hochgeschwindigkeit passiert. Das einzig Gute an dieser Nachricht ist, dass so einem Buch vielleicht doch noch die Aufmerksamkeit zukommt, die es verdient hat. Horstmann polemisiert nicht, sondern er untersucht zunächst, wie die Künste auf den Horror der beiden Weltkriege reagiert hatten und wie sie um eine angemessene Sprache für diese neuen Qualitäten des Schreckens erst ringen mussten, bevor sie zur Warnung vor einem möglichen dritten lieber, wie es im Beraterdeutsch heißen würde, proaktiv zur Sache gingen.

Die Werke, die da alle noch einmal heranzitiert werden, sind oft schon in der knappen Zusammenfassung wieder von gespenstischer Wucht und lassen gleichzeitig über die Freisetzung an ästhetischer Energie durch dieses Thema staunen. Zum einen entzünden sich die Fantasien an all den menschlichen Irrtümern und Fehlschlüssen, die die Prozesse in tödlichen Gang setzen, gerade weil sie genau gegen so was abgesichert sein sollten. („Fail Safe“ hieß einer der früheren Filme des Genres.) Dann zeigt sich, dass die größten Leistungen der apokalyptischen Fantasie oft schon eher im Postapokalyptischen einsetzen, also in der Welt nach der Katastrophe – bei der Ausmalung der planierten Ödnis und toxischen Trümmerwüsten, des trüben Herumkrauchens der paar Überlebenden, bis die Strahlenkrankheit auch sie hinrafft oder künftige Zivilisationen auf die dann nächste Katastrophe zusteuern, weil ein Atomschlag zwar fast alles aus der Welt schafft, aber natürlich nicht das Wissen, wie man Massenvernichtungswaffen baut.

Irgendwann war das Nuklearthema dann auch zum Mittel der ästhetischen Drastik geworden. Thrashmetalbands wie Nuclear Assault, die 1986 ein Album mit Atompilz auf dem Cover und dem schlichten Titel „Game Over“ herausbrachten, oder das bundesdeutsche Metal-Label „Nuclear Blast“ (gegründet 1987) haben in Horstmanns Studie zwar keinen Platz gefunden. Aber selbst in der Funktion als Geschmacksverstärker möchte man dem Sujet noch eine apotropäische, also bannende Wirkung bescheinigen; dem Bestreben, sich die Gestalten der Hölle vom Leib zu halten, verdankten sich nun einmal auch in der Kunst des Mittelalters schon deren eindrucksvollste Darstellungen.

So wie sich die Waffen und die Angst irgendwann gleichmäßig auf beide Seiten verteilt hatten, gab es große Beispiele für apokalyptische Fantasie und Abschreckungskunst natürlich auch im Osten. Und wer damals, Ende der Achtzigerjahre, etwa in den paramilitärischen „Wehrlagern“ des DDR-Schulsystems den tief verstörenden Film „Briefe eines toten Mannes“ von Konstantin Lopuschanski vorgesetzt bekam, ging, obwohl das sicher anders geplant war, tags darauf noch mal deutlich bedrückter zum Handgranatenweitwurf.

Gemeinsam mit Oliver Stone schaute sich Putin tatsächlich „Dr. Seltsam“ an

Eine der Segnungen durch den Mauerfall bestand darin, die Klassiker der anderen Seite post festum als Unterhaltung nachholen zu können, ohne damit eine elementare Angst zu sublimieren. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte Kubricks „Dr. Seltsam Oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben“ von 1964 auch erst später nacharbeiten müssen. Regisseur Oliver Stone hatte Putin dazu eingeladen, sich den Film mit ihm gemeinsam anzuschauen – und das Ganze wiederum filmen lassen.

Da „Dr. Seltsam“ nun einmal eine dunkle, aber auch bestürzend lustige Satire über paranoide Befehlshaber, schwache Politiker und nicht mehr korrigierbare Entscheidungen war, hätte Putin, nur mal zum Beispiel, auch einfach lachen können. Aber nachdem in dem Film am Ende in aller Pracht und mit Musik unterlegt die Atombomben explodiert sind, erst über Moskau, dann über New York, belehrt Putin den Amerikaner mit ausgefahrenem Zeigefinger: „Die Sache ist die, dass sich seitdem wenig geändert hat. Die modernen Waffensysteme sind nur noch ausgefeilter und komplexer geworden. Aber das Konzept solcher Vergeltungswaffen und die Unmöglichkeit, solche Waffen wirklich unter Kontrolle zu haben, gibt es bis heute. Es ist nur noch schwieriger und gefährlicher geworden.“

Anschließend verlässt Putin, sichtlich genervt, den Raum.

 

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 24. März 2022.