Metamorphosen der Apokalypse

Von der anthropofugalen Poesie zur Beinahe-Katastrophe

 

Im Jahre 217 nach der von den Überlebenden „GROSSE VEREINFACHUNG“ genannten nuklearen Katastrophe publiziert der Hofdichter Alraych einen alten Text mit dem Titel DIES CANIS CEREBRALIS oder HIRNHUNDSTAGE. Dieser Text soll nach seinen Ausführungen aus den 70er Jahren unseres Jahrhunderts stammen, ist uns allerdings in eben der Alraych-Ausgabe selbst „überliefert“. Wie diese „Tradierung“ aus der Zukunft in die Vergangenheit erfolgte, wird für uns, die wir für den „Hofsonnettir“ im Sagenreich der „voreinfachen“ Geschichte leben, wohl auf immer ein Rätsel bleiben.

Aus: Wortkadavericon oder Kleine thermonukleare Versschule für jedermann. Köln; Leverkusen 1977. (Editorische Notiz)

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elementares liebespoem

wäre ich nicht länger schon
verstrandet
auf stein
zu ohnmächtiger dünung
ich schlüge
als mondsüchtiger
öliger brecher
noch einmal
schwer
über deinen verteerten knochen
zusammen

Aus: Wortkadavericon oder Kleine thermonukleare Versschule für jedermann. Köln; Leverkusen 1977.

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Wem solche Klarheit des anthropofugalen Blickes gewährt wird, der wird sich nicht von jenen unbelehrbaren Anthropozentrikern verleiten lassen, die das die Greuel der atomaren Apokalypse, die qualvollen Tage und Wochen des Strahlentodes, das bestialische Verenden der Opfer bakteriologischer Kriegsführung, die Schwären, Beulen, verkohlten Kadaver der chemisch Desorganisierten, kurz das von Breughel, Bosch oder Poe erahnte Inferno beschwören, der wird das Winseln, Wimmern, Quieken und Lallen der vielleicht noch um ein kurzes Überlebenden nicht mehr hören können unter den Engelschören, den Segnungen, Huldigungen und dem Lobpreis der Nicht-mehr-Geborenen, der wird die Fleischfetzen, die schwarz-gedunsenen Torsos, das fließende Gedärm, die halbierten Säuglinge, das durch die Augenhöhlen gepreßte Hirn nicht mehr wahrnehmen im gleißenden Licht des zerstrahlten Leidens von unendlichen Generationen, denen die irdische Hölle erspart bleibt (…). ERMANNEN WIR UNS UND MACHEN WIR DEN MOND VON EINEM IDEAL ZU EINEM EWIGEN SPIEGEL UNSERES BEFREITEN PLANETEN!

Aus: Über die atomare Teleologie und die Geschichte oder Bericht für eine Akademie. In: Nicolas Born/Jürgen Manthey (Hrsg.). Literaturmagazin 8. Die Sprache des Großen Bruders. Reinbek bei Hamburg 1977.

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Diese Miniaturen beschreiben eine Welt, in der der Mensch zum Fossil, zum Objekt unter Objekten geworden ist. Die äußerste denkbare Katastrophe ist vorüber – und mit ihr die Kontinuität menschlichen Leidens. Gegenüber einer „Nachgeschichte“, die ihr Subjekt verloren hat, verstummt die Anthropozentrik eines menschentümelnden Humanismus. Nicht so eine ANTHROPOFUGALE KUNST. Es gibt eine Ästhetik des Nicht-Menschlichen, eine Schönheit der Menschenleere, die die plärrende Ichsucht unserer Gattung seit einigen Jahrhunderten nicht mehr wahrhaben will, wenngleich sie der (militär)technologische Fortschritt endlich in ihrem radikalen Anspruch für uns verfügbar gemacht hat. Es ist an der Zeit, diese Ästehtik der Verdinglichung zu vermitteln, damit wir wissen, wofür wir sterben.

Aus: Nachgedichte. Miniaturen aus der Menschenleere. Essen 1980.

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Damit wir noch einmal guten Gewissens die Potentiale messen können, brauchen wir deshalb Zivilaufklärung in einem ganz neuen Sinne: als Ästhetik des Untergangs nämlich. Wir müssen nicht das Überleben propagieren, sondern die Schönheiten des Sterbens. Beim Heldentod der Kombattanden sind in dieser Hinsicht ja glücklicherweise kaum weitere Anstrengungen vonnöten; das unheroische Abscheiden von Frauen, Kindern, Alten bedarf dagegen entschiedenster ästhetischer Aufwertung. Warum gibt es hier keine Lernangebote? Weshalb haben wir keinen Blick für die Poetik der Eskalation, die Mystik der Zielskoordinaten? Welcher Künstler vermittelt etwas von der heiteren Bizarrerie der Trümmerstädte? … Wer schult den Blick für die Erhabenheit der Menschenleere?

Aus: Steintals Vandalenpark. Erzählung. Obertshausen 1981.

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Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst und wir wissen es alle. Hinter dem Parteiengezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: daß wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich – ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende.

Aus: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Berlin; Wien 1983.

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Irgendwann kommt sie, die Nachricht, die Gewißheit, der coup de grâce für den Ptolemismus der Hirnaffen. Wir sind nicht die einzigen. Es gibt Leben und Intelligenz auf Dutzenden von Planeten, auf Tausenden, auf Hunderttausenden. Wie aber reagiert die anthropofugale Philosophie? Mit einem Schulterzucken. Hat nicht auch die Pest Milliarden Bakterien und Abermillionen Opfer? Und gilt nicht hier wie da die einzige Maxime: Ausrotten?

Aus: Hirnschlag. Aphorismen – Abtestate – Bersakasmen. Göttingen 1984.

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Meine Analyse (…) beweist unzweifelhaft, daß es sich bei unserem Planeten um die Strafkolonie der Milchstraße, wenn nicht noch weiterer kosmischer Regionen handelt. Alle Neugeborenen der Erde sind aus anderen Welten abgeschobene, verbannte und deportierte Schwerst- und Gewaltverbrecher, die sich trotz ihrer Transplantation den eingefleischten Hang zum Bösen bewahrt haben und ihre Natur auch hier nach Kräften ausleben. Zudem folgt die Ansiedlung nicht dem Zufallsprinzip, sondern jedes noch so kleine – oder große – Gemeinwesen auf der Erde repräsentiert einen und nur einen ganz bestimmten Ursprungsplaneten, also Kairo etwa K’ahirom, Paris Apa’Haris, Mombasa OmB’assa und Münster Imüz-Star, so daß alte Bekanntschaften hienieden erneuert werden können und sich Komplizen fast notwendig wiederbegegnen. (…) Und weil dieser Planet den Abschaum des Universums kaum noch zu fassen vermag (…), haben die Verantwortlichen offenbar eine thermonukleare Zwangsräumung ins Auge gefaßt (…), eine Zwangsräumung, die, wie ich sehe, eben beginnt, und die die Betroffenen (…) pikanterweise auch noch selbst durchzuführen …

Aus: Das Glück von OmB’assa. Roman. Frankfurt am Main 1985.

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Etwas Ungetümes schob sich auf quietschenden Bulldozer- oder Panzerketten in den Hof unter dem Fenster, zermalmte die Leiter, setzte zurück. Der Diesel brüllte noch einmal auf und röchelte dann im Leerlauf vor sich hin, während ein Hochdruckstrahl auf der Außenwand hin- und herzutanzen begann. Ich hörte, wie der Putz unter der Gewalt des Aufpralls abplatzte und in Brocken herunterprasselte. Auch die Sirene meldete sich wieder. Der auf- und abschwellende Heulton legte sich über das mir unverständliche Geschehen wie Gaze über einer Wunde, oder nein, er war wie ein hauchdünner Seidenschal, der beim Abschied zwischen den eigenen Augen und der Welt flattert, zu der man schon nicht mehr gehört. ABC-Alarm.

Aus: Patzer. Roman. Zürich 1990.

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Der anthropozentrische Größenwahn ungebrochen bis zum Ende. Und doch erscheint der Erduntergang, den wir herrisch zum „Weltuntergang“ stilisieren, im Intergalaktischen Kurier allenfalls auf der bunten Seite.

Infernodrom. Das Freizeitprogramm zur Jahrtausendwende. Einfach einschleusen und ausrasten. Betreten Sie das weite Feld unserer Ausweglosigkeiten. Führungen täglich um fünf vor zwölf sowie auf Knopfdruck. Heute ins Infernodrom. Weil morgen in Zukunft gestern ist.

Aus: Infernodrom. Programm-Mitschnitte aus dreizehn Jahren. Oldenburg 1994.

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„Alles, was sich in Reichweite befindet, wird zunichte, als erstes natürlich die Unterlage. Es wird aussehen, als schmölze das Metall wie Schnee und dann wird der Materiestaubsauger in den freien Fall übergehen, senkrecht durch die Erdkruste und den ganzen Planeten.“ (…)
„Und wann wird Ihrer Theorie nach der Einbruch erfolgen und die planetarische Entkernung beginnen?“ (…)
„Um Mitternacht …“
Im Dominneren ist eine Detonation zu hören, als wäre mit der Niederlegung der stehengebliebenen Säulen begonnen worden. Der Hut eines großen Staubpilzes lüftet sich zwischen den ungeschlachten Vierungstürmen.
„Um Mitternacht oder früher“, korrigiert sich der Sternenkundler.

Aus: J. Ein Halbweltroman. Oldenburg 2002.