Das zweite Ich

Doppelgänger – mal als Figuren lustvoller Ich-Entgrenzung, mal nicht von dieser Welt

 

Der Rückzug aus dem schlafenden Körper in die äußerste Ecke des Schädels, unter dem dieses störrische Hirn wie jede Nacht seinen Hexensabbat abhielt – delirierend, fusionierend, sich entladend – vollkommen unbezähmbar. Das war keine Rehabilitationsmaßnahme, das war Folter. Womit hatte es das verdient? (…) Es saß in einem Wirt, dessen ständige Revolten seine Energien aufzehrten und der in seiner eigenen Umwelt trotzdem nicht verhaltensauffällig werden durfte, wenn es sich seine ohnehin begrenzte Bewegungs- und Handlungsfreiheit erhalten wollte. (…) Die Gattung, in einem deren Exemplare es steckte, war protointelligent.

Aus: Das Glück von OmB’assa. Roman. Frankfurt am Main 1985.

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Doppelgänger

Ein Tölpel ohne böses Blut
mit seiner Handvoll Reime
ganz Unverstand wenn sich was tut
und ich ihn lustlos leime
ein Stubenhocker im Papier
aus dem ihm Welten steigen
setzt er die Füße vor die Tür
tanzt er den Stolperreigen
mit mir der ihn auf Schritt und Tritt
beschattet und begleitet
von Anfang ging kein anderer mit
wer ist schon so besaitet
daß er mit diesem Klotz am Bein
das große Rennen liefe
ein Blindfisch müßte flinker sein
doch wenn er mir entschliefe
ich kaufte ihm das schönste Grab
die Schrift auf Marmorbütten
und – führe selber mit hinab
die Nachwelt zu zerrütten

Aus: Schwedentrunk. Gedichte. Frankfurt am Main 1989.

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Das Frettchen aus dem Wald mußte eine sagenhafte Spürnase besitzen. Denn obwohl ich auf geruchsfremden Geländereifen abtransportiert worden und durch Fluten einer stinkenden Brühe vorwärtsgestolpert war, obwohl zwei Schleusen und ein durchsichtiger Tunnel mich von der Umwelt abgeschnitten hatten und ich jetzt in völliger Isolation etliche Fußbreit über dem Boden schwebte, war es mir auf den Fersen geblieben. Mehr noch, es wußte genau, daß Zweifel an meinem Heimatrecht ihm in meinem Inneren ebenso Tür und Tor öffneten wie das Überstrapazieren meines Geduldfadens, und es nutzte die Chance, ehe ich mich’s versah. Lautstark und mit einer Stimme klärten wir Nachtweih darüber auf, was von den drei Lemuren zu halten war, mit denen er mein seelisches Gleichgewicht gefährdet hatte. (…) Ich spürte, (…) wie das Frettchen tief drinnen Witterung aufnahm und sich in seinem Nest hin- und herzudrehen begann. Nein, bloß das nicht! Ich durfte mich nicht schon wieder vergessen (…). Also patrouillierte ich vor dem Bauausgang.

Aus: Patzer. Roman. Zürich 1995.

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Gesetzt den Fall, daß umseitig ein Doppelgänger gegenzeichnet. Aufs Komma genau. In Spiegelschrift. Eben jetzt und immer schon. Er hat genausowenig Zweifel an seiner Originalität wie sein Vordermann, und beide erleben den anderen als Verkehrer ihrer selbst. Wenn man sie zusammenkommen läßt, schlagen sie sich die Köpfe ein über der seltenen Eintracht ihrer Hervorbringungen.

Augenblicke der Erfüllung habe ich erlebt, in denen ich mehr als eine Stimme, nämlich stimmig war. Aber das ist beileibe nicht alles gewesen. Doppelt gesegnet darf ich mich nennen, weil die Kunst auch noch meinen Unglücksbedarf gedeckt und mir die Verstärker abgestellt hat. Allseits übertönt und überdröhnt lese ich mir mit einem Taschenspiegel von den Lippen ab, was sonst noch mitzuteilen wäre.

Aus: Einfallstor. Neue Aphorismen. Oldenburg 1998.