Selbstauslegung

Wider die Missverständnisse. Ironische Selbstkommentare und bierernste Erklärungsversuche.

 

Wer etwas über die Vorgeschichte unserer Gattung erfahren möchte, der geht in ein Museum. Hier wird die Vergangenheit anschaulich – in Form von Schmuck und Waffen, von Panzerhemden und Bauernkitteln, von Götterstatuen und Menschenknochen. Wer etwas über die Nachgeschichte unserer Gattung wissen möchte, der ist auf Spekulationen angewiesen – oder besser: auf Gedankenspiele. Die einzig funktionstüchtige „Zeitmaschine“ ist in diesem Fall die Phantasie.

Aus: Die Bunkermann-Kassette. In: Beschwörung Schattenreich. Theaterstücke und Hörspiele 1978 bis 1990. Paderborn 1996.

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Nur schwer wird man sich dessen enthalten können, den Autor als Ketzer, seine These als blasphemisch zu brandmarken. Gilt ihm doch eben dieses Leben nicht nur nicht mehr als erhaltenswert, sondern erscheint ihm eine menschenleere, vermoderte Welt auch als überaus wünschbar und plädiert er offen und ohne jede Ironie für die unwiderrufliche Abschaffung des Menschen.

Aus: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht: Wien; Berlin 1983. (Klappentext)

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Was wäre, wenn die Philosophie das letzte Wort hätte? Philosophie ist ein Produkt des Sinnhungers, den sie stillen wollte, aber immer nur für eine Weile zu überspielen oder zu betäuben vermochte. Versetzen wir einen Philosophen in eine nachdesaströse, postapokalyptische Welt, in der der Mensch zerblitzte und nur noch durch Abwesenheit glänzt, so ist abzusehen, daß das professionelle Hungergefühl nicht nur nicht verschwunden ist, sondern sich mit nie gekannter Intensität zu Wort melden wird. Der Philosoph kann also selbst hier nicht anders, als das zu tun, was alle seine Vorgänger getan haben. Er wird aus dem, was passiert ist, Sinn destillieren und über kurz oder lang dahin gelangen, den Gang der Ereignisse für logisch einsehbar, folgerichtig, ja endlich für vernünftig zu erklären. Mit anderen Worten, er schreibt das „Untier“.

Aus: Endspiele. Todestrieb und apokalyptische Spekulation. In: die tageszeitung, 14.10.1989.

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Wer sagt denn, daß der Theoretiker in uns mit den Galgenvögeln der Literatur krächzen, mit ihrem Schwarm mitflattern muß? (…) Ich lasse mich nicht mehr auseinanderdividieren. Wenn ich über Literatur rede, bin ich kein anderer als der, der sie zu Papier bringt, und ich halte diese Personalunion nicht für ein Handicap, sondern für das genaue Gegenteil.

Aus: Eine philologische Entrüstung. In: Peter Gendolla/Karl Riha (Hrsg.). Schriftstellerwissenschaftler. Erfahrungen und Konzepte. Heidelberg 1991.

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Schließlich bin ich alles nur halbwegs geworden: ein halber Literat, ein halber Philosoph, ein halber Philologe. Zwar läuft auch das im Endeffekt auf die branchenüblichen einhundertundfünfzig Prozent hinaus, nur – wieviel davon prämienbegünstigt angelegt waren, weiß der Himmel.

Aus: Kleines Divertimendo über den Elefantenwurm. In: Ansichten vom Großen Umsonst. Essays. Gütersloh 1991.

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Über den Reiz und die Anziehungskraft dieses Substituts (der Denklust am Katastrophalen und Apokalyptischen) möchte ich im folgenden handeln, und zwar als Betroffener, als jemand, der dieser Denklust frönt und den Sirenenklängen vom Ende der Welt mit Leib und Seele verfallen ist. Von Expeditionen in die Nachgeschichte, Ausflügen in das Land Menschenleer wird dabei die Rede sein, von Entdeckungen, Strapazen und dem Preis, der hier ebenso zu entrichten ist wie bei anderen Grenzüberschreitungen auch. Vom Sinnhunger und dem Verlust des Tatendurstes habe ich zu berichten und von den Versuchen der Gegenwehr – nicht gegen das Verschwinden, wohl aber gegen die Unterstellung, wer sich die Apokalypse ausmale, der sei automatisch ihr Zuhälter, ein Unmensch und Massenmörder im Geiste. (…) Eine der wundersamsten Denkfiguren entsteht dann, wenn sich der Intellekt selbst wegdenkt und aus der Welt verschwinden läßt. Den Affekt, der diese nur für Fortgeschrittene zu empfehlende Übung begleitet, nannten wir Denklust am Untergang. Sie hat mit Zerstörungswut und berserkerhaftem Kontrollverlust nur in den Augen derer zu schaffen, die selbst – aus welchen Gründen auch immer – ihr Mütchen kühlen möchten. Die Philosophie verfertigt Gedankengemälde. Und wer wollte einem Maler verbieten, die Apokalypse auf die Leinwand zu bringen?

Aus: Endspiele. Todestrieb und apokalyptische Spekulation. In: Ansichten vom Großen Umsonst. Essays. Gütersloh 1991.

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Das Land ihrer Verheißung, das Land Menschenleer bleibt ihr (der letzten Philosophie) verschlossen. Kein Mensch wird es jemals betreten, keine Botschaft aus der Nachgeschichte wird uns jemals erreichen. Der Umschlag der Apokalypse, der äußersten Anti-Utopie des Humanismus, in den Steingarten Eden und damit die äußerste Utopie der anthropofugalen Vernunft, ist realtiter nicht mehr erlebbar. Auch hier stößt Philosophie an ihre Grenze und auf ihre Ohnmacht. Wo ihre Wirklichkeit endet, beginnt das Versprechen, wo sie verstummt, kann nur noch eines reden: die Poesie.

Aus: Faun und Faunenschnitt. Plädoyer für eine Philosophie des Abschieds. In: Ansichten vom Großen Umsonst. Essays. Gütersloh 1991.

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Bei diesen Veranstaltungen (Talkshows und Symposien zur „Lust am Untergang“) tauchte ab und an auch ein derangierter Wirbelloser auf, der eine Streitschrift mit dem nicht minder krausen Titel „Der Unwurm“ verfaßt hatte. In diesem Pamphlet stellte er die These auf, die Elefantenwurmheit werde sich so lange weitermästen, bis sie ihren Wirt ausgepowert und durch Lähmung des Herzmuskels in den Untergang getrieben habe, denn darauf sei sie von Anbeginn angelegt gewesen. Diese aberwitzige Deutung brachte den Zuhörern und Mitdiskutanden schlagartig jene Lebensfreude und Heiterkeit zurück, die sie so schmerzlich vermißt hatten. Viele von ihnen wurden innerlich von Lachkrämpfen geschüttelt (…). Andere durchströmte wohlige Erleichterung, weil jemand den ganzen Unsinn aussprach, der ihnen selbst lange genug im Schädel herumgespukt war. (…) Und eine dritte Fraktion hatte einfach deshalb einen Narren an dem Narren gefressen, weil es in der Elefantenwurmwelt zu jenem Zeitpunkt nur noch wissenschaftliche Langeweiler, hochspezialisierte Nervensägen transzendental-belletristische Entertainer, ausgekochte Ideenschnorrer und wurmstichige Projektkasper gab.

Aus: Kleines Divertimendo über den Elefantenwurm. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises. In: Ansichten vom Großen Umsonst. Essays. Gütersloh 1991.

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Trauen Sie Ihren Augen nicht! Was hier in Schlips und Kragen vor Sie hintritt, ist ein Landsknecht. Frisch aus seinem Dreißigjährigen Krieg: 1973-2003. Oder vielmehr ziemlich unfrisch; zusammengehauen und ausgeblutet. Ein Söldner-Wrack, um ehrlich zu sein, dem man seinen Westfälischen Frieden mit der Welt nicht mehr aufzwingen und diktieren muß, sondern das blindlings alles unterschreibt, was man ihm hinhält, so wie es früher mechanisch jeden Abzug betätigt hat, der in Reichweite geriet. (…) Trauen Sie Ihren Ohren nicht! Was hier so miles gloriosus-haft daherschwadroniert und naßforsch poltert wie eine Schaufel Erde auf dem Sargdeckel, ist eine Stimme, der es die Stimme verschlagen hat. Und das liegt nicht am Untier-Ausmusterungsbescheid des fahnenflüchtigen Suhrkamp-Verlags, demzufolge meiner „transzendentaldefätistischen Diagnostik derzeit keine ausreichenden Vertriebsaussichten [mehr] eingeräumt werden“. Solche Standpauken und Standgerichte gehören zum literarischen Berufsrisiko. Wer die Degradierungen des Zeitgeistes nicht wegstecken kann, der wird auch keine gute Figur machen, wenn ihn das kulturelle Oberkommando ein paar Kampagnen später ans Bundesverdienstkreuz zu schlagen versucht.
Nein, meine schlecht getarnte, durchschaubar überkompensierte Niederlage ist grundsätzlicherer Natur. Der Krieg ist vorüber. Ich bin frei. Nichts und niemand erteilt mir mehr Befehle, kommandiert mich herum, schickt mich auf philosophische oder belletristische Himmelfahrtskommandos. Ich kann tun und lassen, was ich will. Aber für einen Schriftsteller ist genau das die denkbar schlimmste Option, die existentielle Katastrophe. Ein demissionierter Autor ist keiner mehr.

Aus: Einwurf. Ansichten eines Spielballs. Rede über das Ausgeliefertsein und seine Hirngespinste. In: Lichtungen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik. XXVI. Jahrgang, Nr. 101. Graz 2005.