Ulrich Horstmanns Website für Egbert von der Mehr (2015)

Seit 1976 zeichnet Egbert von der Mehr seine „Enzyklopädien“. Magritte malte in der Küche. Von der Mehrs Arbeitstisch befindet sich im Schlafzimmer, und der Genius loci rumort in den hier entstehenden Werken, diesen brodelnden Bildkaskaden, in denen Erinnerungsfetzen vorbeifluten, Träume aufwallen, Phantasien emporsieden und die Strudel der Nachtmahre, des Monströsen und Verhexten lauern. Kein Rahmen, der das noch faßte, zähmte, umgrenzte; es steigt aus ihm wie aus einem Gullyrost des Unterbewußten, und ist eine Bildfläche überschwemmt, dauert es nicht lange, bis irgendwo unter einem makellosen Bogen Papier das Sickern und Spülen von neuem beginnt und die Bilderschwemme sich ihren Weg sucht, herauspresst und ans Tageslicht quillt. Seit 1978 sehe ich zu. Fassungslos. Bewundernd. Die Entstehungsphasen und -schübe keiner der Enzyklopädien sind fotografisch dokumentiert, und das ist jammerschade, weil der Prozeß, seine Eigengesetzlichkeit und Kybernetik, ein zweites Kunstwerk darstellt, das im Endprodukt nur noch mittelbar, als Unterströmung gleichsam, gegenwärtig ist. Von der Mehr baut seine Arbeiten nämlich nicht schicht- oder zeilenförmig von oben nach unten oder von unten nach oben auf, die Bilderflut steigt nicht wie das Wasser in einem Aquarium, sondern was sich abspielt, gleicht eher dem sich Ausbreiten einer Flüssigkeit auf einer unebenen Fläche oder einem Löschblatt.

Aber nein, es ist, weil diese Metaphorik im Physikalischen, blind Naturgesetzlichen hängenbliebe, vielmehr eine Art Pflanze, die da Fuß faßt auf ödem weißen Grund – Pioniervegetation, hartnäckig, robust, geduldig wie Flechtenwuchs, der sich vorarbeitet entlang unsichtbarer Spalten, Risse und Unebenheiten, so daß anfangs vielleicht eine handtellergroße Zone bedeckt ist, von der aus sich dann Protuberanzen und Ausstrahlungen vorschieben, die schließlich und endlich die gesamte Fläche bis in den letzten Winkel erobern. Oder wieder nein, auch dieser Vergleich verkürzt, verniedlicht sogar. Gesundes, wenn auch gefährdetes Wachstum im Einklang mit der Natur? Von der Mehrs Bildwelten sind nicht heil. Auch Krebs wächst und wuchert. Die Enzyklopädien – Federmetastasen – zeigen den Müllplaneten Erde, übervölkert, zerfressen, ein Siechenhaus und Gruselkabinett, sind Einladungen in das Pandämonium einer abendländischen Zivilisation, durch das schon Bosch und Höllenbreughel, Goya und Kubin Führungen veranstalteten. Aber ist alles Un-Heile, ist das Unheil krankhaft? Ein maligner Tumor, den der Maler fürs Lehrbuch der Sozio-Pathologie abbildet? Wo bleibt da, bitteschön, das Augenzwinkern im diagnostischen Blick von der Mehrs, der derbe Spaß, das Lustige, Lustvolle, Üppige, Stramme, Strotzende, das in den Enzyklopädien doch auch grassiert? Wo das pralle Leben, das sich da austobt in seiner Lädiertheit, das seine Prothesen schwenkt, sich mit beiden Händen an seinen Erektionen festhält – und also gar keinen Finger mehr freihat, um mahnend auf den Betrachter zu zeigen?

Die Enzyklopädien sind keine Therapiezentren und keine moralische Anstalt. Die Figuren werden nicht abgestraft, und wir, die wir staunend vor soviel zeichnerischer Virtuosität und altmeisterlicher Geduld stehen, werden es auch nicht. Vielmehr passen wir als Voyeure bestens ins Bild, machen mit, stellen nach und vor, was dort wiedergegeben ist, wenn wir uns mit wachsender Entdeckerfreude die Brille zurechtrücken und die Nase noch ein Stückchen näher an die Pikanterien und Schweinigeleien heranschieben, denen auch ein Félicien Rops seine Anerkennung nicht versagt hätte.

Wieder falsch, diese Unterstellung des Unverfänglichen und einer kulinarischen Obszönität … Man merkt schon, wer über die Enzyklopädien anders als enzyklopädisch zu schreiben versucht, der kommt in Teufels Küche, und wenn ihn dort der Chef de Cuisine auch noch zu reiten beginnt – übrigens eine ganz von der Mehrsche Bildidee –, dann endet der Annäherungsversuch wie bei mir mit einem Gedicht. Womöglich macht das alles noch schlimmer – oder aber einiges wieder gut:

VOM ENZYKLOPEN VON DER MEHR

Ein Laster kippt das rohe Fleisch
und Seetang oder Haushalts-
müll
und wie das zappelt harkt
verkopuliert
und zuckt
die Maden drehn im Buttermeer
so schwemmt’s und wächst’s
und macht sich breit
und deckt den Rahmen zu
den Tisch das Haus
und Gartenstuhl
da kocht er kocht und kocht
den Brei
der schwappt breit auf vor den Fassaden
in Straßen quillt der Menschenteer
nehmt euch in acht vorm VON DER MEHR
nehmt euch in acht vorm VON DER MEHR
der lockt in seine Enzyklopädien
und tut sie auf zum Leibermoor
das gluckst und sinkt und greift empor
und flimmert wie vor Kinowänden
und stellt dann plötzlich still
flugs kommt die Feder kalt hervor
nimmt Maß fährt um
und zeichnet uns
selbst
bis zum Hals
im Bildermoor

 

Ulrich Horstmann: Kein Zu-Rande-Kommen. Über den Bilderkosmos des Egbert von der Mehr. (1981)

 

Die von Ulrich Horstmann initiierte Website ist dem Werk eines zu früh verstorbenen Künstlerfreundes gewidmet. Umgesetzt von Wolfgang Sinwel (Wien).

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