Über die Kleine Unsterblichkeit und wie man dahin kommt (2014)

Abschiedsvorlesung an der Universität Gießen

Für Helene

Vor einem Vierteljahrhundert ist das akademische Gießen spröde mit mir umgegangen. Zwar hat das Stadttheater schon 1982 mein erstes Theaterstück Würm. Ein Spektakel aus der Nachgeschichte bereitwillig uraufgeführt und damit eine Dramatikerkarriere auf den Weg gebracht, die nach weiteren Zuckungen in Braunschweig und Kaiserslautern endete, kaum daß sie begonnen hatte. Aber an der Justus-Liebig-Universität mußte ich zweimal ‚vorsingen‘, bevor ich 1991 mein Engagement bekam. Dabei stellten sich die Arbeitsbedingungen am Institut, damals noch ein eigenständiger Fachbereich, im Vergleich zur Atmosphäre meines Stücks als deutlich weniger apokalyptisch heraus. Im Gegenteil, sie ließen mir so viel Spielraum, daß ich die alles entscheidende biographische Wende vollziehen konnte, ohne aus der Kurve getragen zu werden. Ich kam nämlich als reichlich vertheoretisierter Kopf, um nicht zu sagen als Hirnkrüppel, an die Lahn und trete hier als sinnenfroher Ganzkörperphilologe vor Sie hin, und diese Entwicklung vom Literaturwissenschaftler zum Literaturwissenschaftler, die ich nur empfehlen kann, habe ich vor Ort nahezu ungestört durchlaufen.

Flagge zeigen kein Problem. Aber die heutige Veranstaltung will nicht nur als Dankeschön dafür verstanden werden, daß daraus niemals die große Flatter wurde. Sie bringt noch eine andere Tatsache, nein, ein factum brutum in Erinnerung: Das Ende der Fahnenstange und der Dienstzeit ist erreicht. In der Sprache der Regieanweisungen steht ein Exit an, das das Schicksal über kurz oder lang einer grammatischen Geschlechtsumwandlung unterziehen und dem es in Spendierlaune noch zwei äußerst fatale Buchstaben zufügen wird: Exitus. Was nun?

Ich glaube nicht an Energy Drinks. Es geht nichts über reinen Wein, insbesondere auf der Zielgeraden. Wir wollen alle den Applaus und seinen Nachhall, die wir den Berufsmarathon absolviert haben, auch wenn wir nicht in der Spitzengruppe, sondern im Feld einlaufen, und wir brauchen ihn nachhinkend, während das Siegertreppchen schon wieder geräumt wird und das Publikum abwandert, vielleicht am dringlichsten. Deshalb muß man sich beizeiten Gedanken machen, wie man sich in Erinnerung bringt und hält. Und ich möchte Ihnen am Ende die beiden Tricks verraten, die ich nach reiflicher Überlegung praktiziere, was den schönen Begleiteffekt hat, daß Sie mir, so diese Verfahren einigermaßen greifen, als Souffleur sogar noch aus diesem dritten Grund ein gutes Andenken bewahren werden.
Aber fangen wir bescheiden an und klären wir, was wir nicht wollen und worauf wir verzichten:

Dauerhafter als Erz führt‘ ich ein Ehrenmal
Über Königesbau und Pyramiden auf,
Das nicht zehrender Guss, nicht ungezähmter Nord
Auszutilgen vermag, auch die unzählige
Jahrenreih‘ und die Flucht eilender Zeit nicht.
Sterben werd ich nicht ganz […]

So klingt es, wenn uns Horaz in und mit dem dritten Buch seiner Carmina (Oden) über mehr als zwei Jahrtausende hinweg anspricht und einschüchtert. Und so hört sich ein anderer Klassiker an, der es, wenn schon nicht an Halbwertzeit – hier geht es erst um gut vier Jahrhunderte –, so doch an Selbstbewußtsein problemlos mit dem römischen Aufsteiger und Sklavensohn aufnehmen kann:

But thy eternal summer shall not fade
Nor lose possession of that fair thou ow’st;
Nor shall Death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st;
So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

In seinem 18. Sonnet ist sich William Shakespeare nicht nur seiner eigenen unbegrenzten literarischen Fortdauer sicher, sondern auch der magischen Gabe, dem, der, den Angesungenen seinerseits zum ewigen Leben im Wort zu verhelfen. An dieser großen Unsterblichkeit, da sind wir uns wohl einig, wollen wir uns nicht überheben. Denn als Literaturhistoriker wissen wir nur allzu gut, wie sich die Einzigartigen an den Blendern und Stümpern schadlos halten, die ihre Grenzen nicht kennen. Sie verfahren so mit den von ihrem Größenwahn Überwältigten wie Alexander Pope in seiner Dunciad mit Colley Cibber umspringt, wenn er Shakespeares Zauberstab umdreht und nicht mehr einen hochgeachteten oder geliebten Menschen buchstäblich festhält, sondern die Jämmerlichkeit eines Möchtegern-Virtuosen der Gnade des Vergessens entzieht. Nein, wir machen es halblang und votieren anstelle der großen Unsterblichkeit – mit kleinem g – für die Kleine Unsterblichkeit – mit großem K – oder noch kürzer, unsere Überlebensdevise lautet: K.U. statt k.o.

Dafür haben wir, gut zu wissen, den ausdrücklichen Segen jener Dauerhaften, vor deren Unmut wir angesichts zahlreicher gebrannter Kinder auf der Hut sein sollten. Verabreden wir uns dazu in der Mitte des 18. Jahrhunderts und schließen wir uns der Führung Thomas Grays und seiner „Elegy Written in a Country Churchyard“ an. Hier sind wir auf keinem Dorotheenstädtischen Friedhof des Augustan Age und nicht unter den Leuchtfeuern des aufgeklärten Geistes; hier sind wir zwischen einfachen Leuten und kleinen Lichtern, die trotzdem noch nachglühen möchten in der Erinnerung der folgenden ein, zwei Generationen, oder schlichter, hier befinden wir uns unter unseresgleichen und in Gegenwart eines geradezu flächendeckenden Verlangens nach Kleiner Unsterblichkeit:

For who to dumb Forgetfulness a prey,
This pleasing anxious being e’er resigned,
Left the warm precincts of the cheerful day,
Nor cast one longing lingering look behind?
On some fond breast the parting soul relies,
Some pious drops the closing eye requires;
Ev’n from the tomb the voice of nature cries,
Ev’n in our ashes live their wonted fires.

Wir bekommen demnach von berufener Seite grünes Licht für unseren Wunsch nach Zwischenschaltung eines Dimmers, wenn uns das Lebenslicht ausgeblasen wird, so daß wir langsam ab- und ausgeblendet werden wie ein Sympathieträger im Kino und nicht weggeschnitten wie ein aus dem Bild stolpernder Statist. Aber mit welchem Kunstgriff man sich Grays ’stummem Vergessen‘ noch für ein Weilchen entziehen kann, darüber erfahren wir auf seinem vor-vorromantischen Gottesacker herzlich wenig.

Es dämmert uns aber. So wie die Einzigartigen, in deren Allgegenwart die Philologen ihre privilegierte Existenz zubrachten, bevor sie in die Subduktionszonen der Kulturwissenschaft gerieten, so wie diese Ausnahmegestalten ihr Leben daran setzen mußten, um sich die große Unsterblichkeit zu erkämpfen, so fällt auch die Kleine niemandem in den Schoß. Fleißige Pflichterfüllung – ich verrate es höchst ungern – langt nicht hin. Die munterste Abschiedsvorlesung reicht nicht aus, keine Exzellenzinitiative, kein Drittmittelmaß zwingt sie herbei. Wie bei ihrem nicht minder heiß begehrten Gegenteil, ‚la petite mort‘, dem kleinen Tod, muß man sich, vermute ich mal, ebenso energisch wie zärtlich ins Zeug legen, um (an) zu kommen.

Namen sind Schall und Rauch, und Sie werden gleich besser verstehen, warum ich hier die K.U. umtanze wie die Israeliten das Goldene Kalb. Mir ist nämlich das Schicksal zweier Doppelgänger unter die Haut gegangen, die mir demonstriert haben, wie schnell man trotz guter Voraussetzungen alle Ansprüche auf kurz- und mittelfristiges Erinnertwerden verwirken und sich im Dunkel der Geschichte verlieren kann. Ich bin mit anderen Worten nicht der erste Aspirant, der Horstmann heißt, und ich werde nicht der letzte sein. 1878 erschien in der Gartenlaube ein längerer Artikel mit der Überschrift „Die Horstmann’sche Schwerkraftmaschine“, in dessen Protagonisten ich zunächst, womöglich aufgrund einer entfernteren Blutsverwandtschaft, einen Mitmelancholiker vermutete.
Nichts abwegiger als das, denn es handelt sich um einen Merseburger Erfinder, der nach 18jähriger entsagungsvoller Tüftelei mit einem Perpetuum mobile vor die Einwohner seiner Heimatstadt und die überregionale Presse eben in Gestalt des angeführten biedermeierlichen Organs hintrat und einigen Eindruck machte:
Das Publicum kam und Horstmann siegte, denn die Maschine bewegte sich mit geradezu verzweifelter Regelmäßigkeit. Da gab es nichts von bewegender Dampf-, Gas-, Pferde- oder Menschenkraft, aber die Maschine bewegte sich. Da waren auch, wie eine genaue Untersuchung ergab, keine magnetischen, elektrischen oder chemischen Kräfte, und die Maschine bewegte sich doch.

Kraft aus der Kraftlosigkeit, Energie aus Ohnmacht, wenn ich das richtig verstehe. Vielleicht hatte mein Namensvetter also doch das entscheidende Prinzip von Schwarzgalligkeit und Schwermut begriffen. Aber von seiner mechanischen Umsetzung ist nichts mehr in Erfahrung zu bringen; „leider“, so der Redakteur, „erlaubt es die Rücksicht auf den § 2 des Patentgesetzes nicht, dem Publicum der ‚Gartenlaube‘ eine genauere und durch Abbildung unterstützte Beschreibung der Horstmann’schen Maschine vorzuführen.“ Und folglich war weder dem „einfachen Schlossermeister“ noch seiner Apparatur, der im übrigen „zwei Pferdekräfte“ attestiert wurden – einem automobilen Deux Chevaux lange vor der ‚Ente‘ also –, die Kleine Unsterblichkeit beschieden, die ich nach wie vor im Visier habe.
Noch unheimlicher wird mir allerdings bei dem zweiten Vorläufer und Doppelgänger, der mir nicht beim Herumbasteln an einem handgreiflichen Selbstläufertum begegnet ist, sondern auf dem ureigenen beruflichen Terrain. Der Anglist Horstmann war mit anderen Worten auch schon einmal da, und zwar genau dort, wo ich gut einhundert Jahre später die niederen und höheren akademischen Weihen empfing, in Münster. Es handelt sich um Carl Horstmann, der sich 1872 über altenglische Dichtung habilitierte, wobei das Verfahren durch ten Brink von Marburg, meinem jetzigen Wohnort aus betreut wurde. 1889, so vermeldet die Chronik des Englischen Seminars der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster, gab Horstmann seine Oberlehrerstelle in Berlin auf und ging nach England,
wo sich seine Spur – und jedes Andenken – verliert.

Dabei hat er fleißig publiziert, wiederholt auch in der 1878 aus der Taufe gehobenen Anglia, in der ich mit einer ganzen und dazu noch mißmutig-verkniffenen Rezension vertreten bin. Wem das nicht zu denken gibt, dem ist kaum zu helfen. Kann man sich – der oben artikulierte schlimme Verdacht kehrt zurück – als arbeitsamer und gewissenhafter Literatur- oder Kulturwissenschaftler überhaupt noch in die K.U. publizieren? Nach Stephen Greenblatt, Galionsfigur des New Historicism, ist es unsere Haupt- und Lieblingsbeschäftigung, uns zu absentieren und mit den g.U.’s – den großen Unsterblichen – Zwiesprache zu halten: „I began with a desire to speak with the dead.“ Das ist eine Sache. Die andere ist, ob die Nachwelt mit und über uns redet, wenn wir tot sind. Es tut mir in der Seele weh, das zarte Pflänzchen Hoffnung nicht begießen zu können, aber in meinem, in unserem Metier gibt es eine schwere Anomalie. Die Großen des Fachs, die literatur- und kulturwissenschaftlichen Koryphäen schaffen es mit Müh‘ und Not in die Kleine Unsterblichkeit – in der Regel demonstriert und dokumentiert durch die Aufnahme immer desselben Kapitels ihres Hauptwerks in jene ziegelsteindicken Theorieanthologien, mit denen man Vater und Mutter erschlagen kann. Für das breite Mittelfeld der eigentlichen K.U.-Aspiranten, die Phalanx der Wasserträger und Multiplikatoren, bleibt dann nichts mehr übrig außer dem technischen K.o.
Warum ist das so? Drei gute, oder besser, ungute Gründe fallen mir ein, die wir im Schnelldurchlauf abarbeiten wollen: Überproduktion, die Negativierung des eigenen Forschungsgegenstandes und die Selbstpirouettierung des Fachs. Das erste Defizit ist schon Anfangssemestern geläufig. Es wird zu schnell und zu viel publiziert, und die Halbwertzeit des auf den akademischen Markt Geworfenen geht unbeirrbar gegen Null. Bei der obwaltenden „gelehrten Stallfütterung“ – so die Formulierung Georg Christoph Lichtenbergs – werden immer größere Würfe produziert, so daß man bald vor lauter Karnickeln den eigenen Kleingarten nicht mehr sieht, Hase heißen will und sich vom Acker macht. Wem diese Bestandsaufnahme zu versprachbildert und versprachwildert daherkommt, dem bin ich gern mit mehr Empirie zu Diensten. Es gibt inzwischen statistisch niet- und nagelfeste Untersuchungen zuhauf, die nachweisen, daß der durchschnittliche fachwissenschaftliche Artikel nicht nur in den Geisteswissenschaften von zwei Komma – nein, die Stellen hinter dem Komma schenken wir uns –, von zwei Personen also gelesen wird: dem Verfasser und dem Gutachter. Wobei man nach der Lektüre des ein oder anderen Fallbeispiels zu dem Schluß kommen könnte, daß es sich auch bei dieser Annahme noch um einen frommen Wunsch handelt.

In den ‚Humanities‘ rauscht es, anders gesagt, zu viel, um einem einzelnen vorzeigbaren Lebenswerk hinterherlauschen zu können. Und nicht das altehrwürdige kosmische Rauschen ist damit gemeint, die Hintergrundstrahlung, die vom Big Bang und dem langen Atem des Universums kündet, sondern das, was auf jeder Universitätstoilette zu hören ist. Wir kommen damit nach der Überproduktion zum zweiten großen Stolperstein, der jeden echten Fortschritt in Richtung innerdisziplinärer Erinnerungskultur verhindert: der Negativierung des eigenen Forschungsgegenstandes, oder einfacher und deftiger gesagt, dem seit etlichen Jahrzehnten eingerissenen Schlechtreden und Kleinmachen von Literatur und ihren Verfassern. Die Inbrunst, mit der poststrukturalistische Paradigmenstifter, ihre Schulen und selbst noch die mit ihnen verfeindete spätestscholastische Konkurrenz auf dem künstlerisch autorisierten Wort herumhacken, ist Außenstehenden und Nichtspezialisten kaum verständlich zu machen, den Eingeweihten dagegen sattsam bekannt. Weshalb ich es bei einem Zitat bewenden lasse, das die fatale Wechselwirkung zwischen dem Aufbau eines Theoriegebäudes und dem Schwingen der Abrißbirne über der früher schöngeistig genannten Literatur eindrucksvoll vorführt:

Theory’s favourite eureka moments have usually been negative epiphanies: […] Reports of
the ‚death of the author‘ (Barthes), ‚death of the subject‘ (Foucault) and ‚death of the real‘
(Baudrillard), together with the news that the grand narratives are obsolete (Lyotard), and
there is nothing outside the text (Derrida), can only reinforce the suspicion that theory specialises
in orbituary-writing and general debunking. (Michael Greaney)

Bei einer derartigen Inflation von Nachrufen ist für die, die keine Nachrufer sein wollten und einen produktiven Umgang mit ihren Interessengebieten gepflegt haben, selbstredend kein ‚Fahre wohl‘ mehr drin.

Wir sind beim dritten und letzten Grund für die sang- und klanglosen Umgangsformen an der ‚cutting edge‘ angekommen: der Selbstpirouettierung des Fachs. Damit meine ich den immer schnelleren, immer atemloseren Wechsel und Austausch der Moden und der Theoriedesigns: ‚interpretive turn‘, ‚performative turn‘, ‚iconic turn‘, ’spatial turn‘, ‚translational turn‘, ‚cultural and transcultural turn‘ usw. Wenn man keinen Halt mehr besitzt, weil man sich einredet, alles sozial konstruiert oder autistisch dekonstruiert zu haben, muß man zur Erzeugung von Stabilität wie ein Derwisch um sich selbst zu kreisen beginnen. Und genau diese Schrauben und Drehungen im nahezu freien Fall beobachtet man mit vom Fahrtwind zu Berge stehenden Haaren, wobei der bis heute aussagekräftigste Kommentar dazu der amerikanischen Popkultur zu verdanken ist, genauer dem bibelfesten Byrds-Hit aus dem Jahre 1965:

To everything – turn, turn, turn
There is a season – turn, turn, turn
And a time to every purpose under heaven.

Warum es mir Kopf und Bart verwuschelte, wo ich doch Literaturwissenschaftler und Nicht- Derwisch bin, wollen Sie wissen? Weil ich aus allen Wolken fiel, als ich einsehen mußte, daß beim Erwerb der Kleinen Unsterblichkeit mit der Unterstützung der zeitgenössischen Literaturwissenschaft im allgemeinen und der deutschen Anglistik im besonderen nicht zu rechnen war. Darauf, ich gestehe es frank und frei, war ich nicht gefaßt gewesen, und der Schock erklärt vielleicht zur Genüge, warum ich das mir bekannte hohe Risiko einging, nach dem sprichwörtlichen Strohhalm griff und direkt unter dem Damoklesschwert mit der Aufschrift Colley Cibber an meinen Schreibtisch zurückkehrte, um das zu verfassen, was es nach Maßgabe der Theorie-Avantgarde nur noch als optische Täuschung gab: Literatur.
Aus dem Stolpern und Straucheln wurde ein Glücksfall im doppelten Sinne – für den belletristischen Schwarzarbeiter, der mal Klaus Steintal, mal Horst-Ulrich Mann, meistens aber genauso wie ich hieß, und für den Philologen, der sich hier von Ihnen verabschiedet. Letzteres deshalb, weil es für einen Literaturwissenschaftler nichts Nützlicheres geben kann als die Innenperspektive des Schreibenden, die es paradoxerweise auch ermöglicht, sich selbst mit anderen Augen und von außen zu sehen. Ich kann nicht umhin, Ihnen diesen bemerkenswerten und hochwillkommenen Zugewinn an Einsicht anhand von zwei Gedichten vorzuführen.

Wer wäre nicht schon über das notorisch angespannte Verhältnis von Kunst und Macht ins Grübeln geraten, über die grandiose Unbeugsamkeit von Literaten und ihr jämmerliches Speichelleckertum, über einen Ezra Pound, der hinter faschistischen Mikrophonen die Trommel für Mussolini rührt, um danach von seinen amerikanischen Landsleuten, wie ein Papagei, im Käfig öffentlich zur Schau gestellt zu werden, oder über alphabetisch geordnete Bücherregale, in denen Celan und Céline gleichsam Hautkontakt haben, ohne daß es zu Ausschlägen oder gegenseitigen Kneifattacken kommt. Die Monographien zu diesem Thema füllen Bibliotheken. Wenn Sie sich dagegen einem Gedicht anvertrauen, brauchen Sie nur einen Auslöser, zwei Poller zum Festmachen und, sagen wir, um die fünfzig Zeilen Freiraum – schon sehen Sie klarer.

Der Auslöser für „Préludes“ war Iris Radisch, mit der ich mich Anfang der 90er als Zeit-Rezensent heillos zerstritten habe, weil sie zum großen Halali auf Heiner Müller blies. Als Poller dient zum einen die Anspielung auf die Préludes von Franz Liszt, die im Radio des Dritten Reiches immer dann angespielt wurden, wenn es galt, eine verläßlich triumphale ‚Sondermeldung‘ unters Volk zu bringen und die deshalb noch eine ganze Hörergeneration lang einschlägig besetzt waren. Der zweite am Ende benutzte Anknüpfungspunkt ist das Hans Holbein-Gemälde mit dem Titel Die Gesandten (1533), auf dem zwischen den beiden in diplomatischer Mission tätigen Renaissance-Dressmen ein Totenkopf sichtbar wird, der sich konvex und fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt in einem Schild spiegelt. Hier also meine Reflexion:

Préludes
Es geht nicht in
die Moralister,
daß wir mit schmutzigen Händen
saubere Arbeit leisten:
IMs der Weltgeschichte,
Kobolde vom Prenzlauer Berg,
Vorkoster in den Hexenküchen der Macht,
Nachbeter gestürzter Demagogen.
Exempli gratia habe ich Nero erzogen,
ihm in der Wanne meine Pulsadern angelegt,
bis er milchbärtig aus seiner Lauheit stieg.
Zu Befehl ließ ich mich aufspielen
hinter Stacheldraht und Todesstreifen
bei den Soireen des Kommandanten.
Die Gehörgänge von Fleischwölfen
sind mir nicht zu abwegig gewesen,
noch verhallte ich mit Liszt
vor dem Einsatz als Sondermelder.
Weiß Gott bin ich Kirchenmaler gewesen,
das erhebende Werk seelenruhig fixierend
mit Borgia-Ergüssen, proletarischem Schweiß.
Augenweiden für die Verblendeten
habe ich signiert,
und das Reich der Freiheit
dick aufgetragen
in den Sklavenställen der Sieger.
Nennt es, wie ihr wollt:
Ohnmacht, Schwäche, Schuld,
Käuflichkeit, willfährige Kollaboration. Es tut
nichts zur Sache,
woran sich einer aufhängt,
der mir die Kunst neiden muß.
Zeigt die Zunge. Speit mich an.
Holbein heiß ich und lasse den Speichel
so lebensecht über meine Brokate rinnen,
daß man die Leinwände allmorgendlich
trockentupft in den Museen,
damit sich die Unart im Rahmen hält,
damit das Verlangen gestillt wird,
im Moralister,
das Verlangen nach Reinheit sowie
nach klassischer Musik
im Bistro und beim Austreten
nach der zappeligen Begegnung
mit meinen Gesandten.

Das zweite Gedicht „Schwein gehabt“ ist auch eine Spiegelung, mehr noch, es ist Spiegelfechterei. Es kehrt den Spieß um, weil hier kein Philologe die Literaten bzw. den Literaten in sich ins Visier nimmt, sondern die schöne Seele den Berufsinterpreten, mit dem sie symbiotisch verbandelt ist. Das Spielbein baut sich sozusagen vor dem Standbein auf und erinnert es auf ziemlich indezente Weise an sein akademisches Handicap, ein nicht abzustellendes Nachziehen und Nachhinken.

Schwein gehabt

RÜCKEN AN BAUCH, BAUCH AN RÜCKEN
WELLT SICH UNTER DER SCHWARTE
DAS FLEISCH,
SCHWAPPT DIE SPECKIGE DÜNUNG,
GURGELT, PRUSTET UND FURZT
DIE FÜLLUNG DES PFERCHS,
DÜNSTET AUS,
WORIN MAN SICH GUT RIECHEN KANN.
Die Viecherei beginnt bei Ferkeln
ohne Stallgeruch.
Das indignierte Grunzen,
das angewiderte Runzeln der Rüssel,
das verbissene Frontmachen
kenne ich aus Berufungskommissionen, literarischen
Gesellschaften sowie diversen anderen Einrichtungen
der Intellektuellenmast.
War ich mit zu vielen Wassern gewaschen,
von Geburt an deodorant
oder bloß nicht großporig genug?
Jedenfalls kriegten sie immer Wind von dem,
was mir abging,
und bestallten mich nicht.
Hatten sie sich erst Luft, ihre Luft gemacht,
half kein Sonderdruck, kein großer Wurf,
mit dem man widerborstig
auf die Welt gekommen war.
Etwas füttert mich durch, gut,
in meinem Verschlag;
aber mit Haut und Haaren
komme ich nicht dazwischen,
Rücken an Bauch, Bauch an Rücken,
ruchlos, wie ich bin.

Soviel als Anschauungsunterricht oder besser Hörprobe meiner zweiten K.U.-Initiative, die, wie erinnerlich, aus dem Eingeständnis resultierte, daß die Literaturwisssenschaft für ausscheidende Fachkräfte weder Dimmer noch die grauen Zellen der Memoria noch einen konservierenden Balsam im pietätvollen Spender bereithält. Nun ist das Absetzen in das unwissenschaftliche Schreiben, ich will das nicht wiederholen, eine großartige Sache und die Fähigkeit dazu ein Gottesgeschenk; aber – aber wenn ich die ein-, zwei-, na schön, in einem Fall auch dreistelligen Absatzzahlen Revue passieren lasse, die meine literarischen und essayistischen Publikationen bei den Jahresabrechnungen der Verlage erreichen, gibt es nichts, was mir die ernüchternde Schlußfolgerung ersparte: Das K.U.-Potential des Texters Horstmann liegt auch nur unwesentlich höher als das seines textverarbeitenden Alter ego.

Da ist es wieder, das ganz und gar nicht witterungsbeständige Ende der Fahnenstange mit den fünfundsechzig Jahresringen und den Schnittspuren der Kettensäge. Wenn ich mich von diesen und anderen Schreckensbildern erholen will, gehe ich für gewöhnlich auf die Marburger Lahnberge in die kultivierte Natur. Eben dort, im Neuen Botanischen Garten, gibt es etwas sehr Altes, was mich auf eine weitere Idee brachte. Ich rede von den spätbronzezeitlichen Urnengräbern, die im hinteren Teil des Areals recht zahlreich anzutreffen sind und auf das stattliche Alter von ca. 3.000 Jahren zurückblicken können. Von den unwissenden und abergläubischen Nachgeborenen zu Hexentanzplätzen umdefiniert haben sie die Zeitläufte – vielleicht auch deshalb – unbeschadet überstanden. Keine Angst, ich will sie keineswegs weiter zweckentfremden und die Asche unter den Erdhügeln zum Anlaß eines gelehrten Exkurses zu Sir Thomas Brownes Hydriotaphia or Urn Burial (1658) nehmen, denn fraglos haben die beiden Stippvisiten bei den Ungereimtheiten des Horst-Ulrich Mann, seines Zeichens fünftes Rad am Wagen einer illustren Schriftsteller-Dynastie, ihren Bedarf an Umund Abwegen mehr als gedeckt. Kommen Sie lieber mit ins Marburger Schloß-Museum, Abteilung Vor- und Frühgeschichte.

Aber zuerst die Idee. Was wäre denn, wenn wir uns angesichts der wie eine Gewitterfront aufziehenden schwarzen Wand des Vergessens entschlössen, in die Hände zu spucken und statt nach Kugelschreiber oder Laptop zur Schaufel zu greifen; allerdings nicht, um uns unter die Erde zu bringen, sondern im kollektiven Gedächtnis über Wasser zu halten. Drei Jahrtausende klingen schwer nach g.U. und der Einsatz dafür ist lächerlich gering. Die experimentelle Archäologie hat Genaueres über die traumhaft günstige Input-Output-Relation in Erfahrung gebracht, und die Versuchsanordnung ist im genannten Museum dokumentiert. Dort stehen die selbstgemachten hölzernen Spaten, mit denen damals gearbeitet wurde, und die Kübel für die Erdbewegungen. Die Fortschritte bei der Säuberung und Vorbereitung des Untergrundes, dem Aufrichten des äußeren und inneren Steinkreises und dem Anhäufen des Grabhügels sind sorgfältig photographisch festgehalten. Was unter dem Strich herauskommt, ist, daß man selbst mit einer Handvoll handwerklich eher ungeschickter und körperlich untertrainierter Archäologie-Studenten nur zwei, drei Wochen braucht, um sich auf die beschriebene Weise für Millennia unübersehbar in Erinnerung zu halten. Haben ein Horaz und Shakespeare also mehr als unökonomisch gearbeitet, als sie zu Stift und Feder griffen, den Spatenstiel links liegen ließen und sich zu einer lebenslänglichen Fron und Selbstausbeutung entschlossen, die den Cro-Magnons des Amöneburger Beckens nur die buschigen Augenbrauen zusammengezogen hätte? Bevor wir jetzt wie ein Mann oder eine Frau aus der UB, den Hörsälen und Übungsräumen stürzen, den Parkplatz vom Asphalt befreien und mit den Erdbewegungen beginnen, sollten wir noch einen Hamlet-Moment lang innehalten. „Aye, there’s the rub“, da liegt der Hase, dem wir zuletzt auf der Flucht vor der gelehrten Stallfütterung begegnet sind, im Pfeffer. Die Totengräber des Holozäns haben sich zwar in die g.U. gebuddelt, nur leider absolut anonym und namenlos. Fehlanzeige also auch hier, denn wir wollen in der Erinnerung ja als dieser ganz Bestimmte und Unverwechselbare langsam verblassen.
Schon gut, ich verstehe, daß sich allmählich Unruhe breitmacht. Spätbronzezeitlicher Hase hin, postmoderne Kaninchen her, die Katze soll endlich aus dem Sack, nicht wahr? Nachdem Sie sich eine halbe Stunde damit haben hinhalten lassen, wie es nicht funktioniert, wollen Sie endlich eingeweiht werden und heraus aus den Sackgassen. Butter bei die Fische! Aber bitte sehr! Ich formuliere auf der Höhe der Zeit: Die Lösungsmodule bzw. -algorithmen sind abrufbar unter den Codierungen SWIFTS bzw. IBYKUS sowie OBII.

Bei SWIFTS handelt es sich nicht um zusätzliche Überweisungsformularsbandwurmfortsätze Ihres Kreditinstituts und auch nicht um die Familienangehörigen des größten Satirikers englischer Zunge, Jonathan Swift, obwohl der uns auf den letzten Metern noch einmal begegnen wird, sondern um die Überflieger mit der ornithologischen Bezeichnung Apus apus, also Mauersegler. Der Trick bei der Sache ist, daß man sich, um den Status K.U.-o.k. zu erreichen, in den Köpfen seiner Umwelt unaufkündbar mit einem rekurrenten Naturphänomen liieren muß. Zugvögel sind hier eine optimale Besetzung. Deshalb vergeht kein Wintersemester, in dem ich nicht am 12.12. in all meinen Lehrveranstaltungen die ‚Seglerwende‘ feiere, d.h. den Zeitpunkt, an dem die neun Monate Wartezeit auf die Rückkehr meiner Totemtiere zur Hälfte verstrichen ist und der Kalender für uns zu arbeiten beginnt. Außerdem mache ich deutlich, daß der 24.12. gegen den 12.12. keine Chance hat. Denn das wahre Weihnachten, so die entsprechende Routine im Sommersemester, ist der 24.4., der Tag, an dem die ersten Späher am Himmel erscheinen und nach acht-, neuntausend Kilometern Luftlinie, die im übrigen kein Mauersegler beachtet, das Einschweben aus Südafrika oder dem Kongo-Becken folgt.

Am Beginn des Sommersemesters feiern wir also jedes Jahr Mauersegler-Advent und zählen die Tage. Damit bin ich auch nach der Pensionierung felsenfest in Hunderten von Studentenköpfen verankert. Es läuft ab wie in der Zeile der Schillerschen Ballade „Sieh da! Sieh da, Timotheus, / die Kraniche des Ibykus!“; das verläßliche alljährliche Wiederauftauchen dieser Vögel ruft auch mich zurück: ‚Kuck mal, da sind sie wieder, Horstmanns Mauersegler!‘ Voilà, K.U. durch beschwingte Assoziation.

Alternativ, gern aber auch flankierend dazu, bietet sich OBII, lateinisch für ‚ich bin hingegangen oder gestorben‘, an – eine Strategie, die wie SWIFTS mit der Methode des steten Tropfens arbeitet, allerdings für das seelische Gleichgewicht eine etwas stärkere Belastung mit sich bringt als die Neubesetzung der geläufigen christlichen Feiertage. OBII hängt nämlich von der Bereitschaft und dem Mut ab, sich in den eigenen Tod vorauszulaufen, ihn imaginativ vorwegzunehmen. Wer nicht weiß, wie er das anfangen soll, dem stehen u.a. Jonathan Swift mit den „Verses on the Death of Dr Swift“ (1731) und Robert Musil mit dem Vorwort seines Nachlasses zu Lebzeiten (1936) tatkräftig zur Seite. Die zweite Komponente ist dann eine symbolische Beisetzung, jedoch eben nicht der eigenen Person, um deren Weiterleben im übertragenen Sinne es ja gerade geht, sondern ihrer Glaubwürdigkeit. Und auch in diesem Fall gibt es literarische Hilfestellung. Gemeint ist die bekannte Äsopsche Fabel vom Hirtenjungen und dem Wolf. Der junge Schäfer macht sich einen Spaß daraus, bei allen möglichen Gelegenheiten „Wolf, Wolf!“ zu brüllen und erheitert zu beobachten, wie die Dorfbewohner prompt alles stehen und liegen lassen, um ihm zur Hilfe zu eilen. Bis eines Tages das Maß des falschen Alarms voll ist. Genau dann kommt das Raubtier wirklich. „Wolf, Wolf!“, schreit der junge Hirte, aber unten im Dorf nickt man sich nur wissend und säuerlich lächelnd zu.

Die Moral von der Geschicht‘: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Das ist mein Stichwort und das Herzstück von OBII. Man muß biographische Desinformation betreiben, was das Zeug hält; auf Klappentexten, Websites, Wikipedia und wo sich sonst noch Outlets ergeben, hausieren gehen mit getürkten Lebensdaten wie: Ulrich Horstmann (1949 – 2004/2010/2014 usw.). Je mehr Sterbejahre man einspeist und je öfter diese Fehlinformationen auffliegen, desto besser. Denn wenn eines Tages die echte Todesanzeige erscheint, werden sich alle wissend und säuerlich lächelnd ansehen. Das, wird es heißen, setzt ja wohl dem Faß die Krone auf!

Und in der Tat, der Triumph ist vollkommen. Horstmann ist glaubwürdig nicht mehr für tot zu erklären.Voilà: K.U. durch vorgetäuschten K.o.

 

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