J. Ein Halbweltroman. (2002)
In den Himmel zu kommen ist ein schwieriges Unterfangen. Oft dauert es ein Heiligenleben, bis einer sein sprichwörtliches Kamel durch sein sprichwörtliches Nadelöhr püriert hat. Aber selbst das Passieren einer ganzen Karawane bleibt ein Kinderspiel, verglichen mit dem Aufwand, den eine Reise in Gegenrichtung erfordert. J. Alda Boath ist also nicht zu beneiden.
J. Ein Halbweltroman. Igel Verlag, Oldenburg 2002.
Pressestimmen
Was (…) ist mit einer Welt anzufangen, die durch göttliche Großmannssucht Investitionsruine geblieben ist? Horstmanns Antwort in „J“ lautet: Man muss dem Urheber eine Therapie verordnen und ihn zwecks Bewährung und Rehabilitation auf die Erde zurückversetzen. Als folgenschwerster Fehlgriff des Gottes hat der Kontakt mit der Christophorus-Figur im Dom zu Münzmar, einem spiegelbildlich gegeneinander versetzten Amalgamum von Münster und Marburg, zu gelten: Js Unmut lässt das Standbild des Heiligen Tiefsttemperaturen verströmen, so dass unter den Augen der schnell anrückenden Medienmeute der ganze Münzmarer Dom vergletschert. Kirchenmänner, Naturwissenschaftler, der Psychiater Q. Rare und die Medienleute reagieren mit Hilflosigkeit, nicht weil ihre Welt dem Untergang geweiht ist, sondern weil ihre Weltbilder zusammenstürzen. Wichtiger als die Abwehr der Apokalypse erscheint ihre optimale Ausleuchtung auf Fernsehmonitoren. (…) Kurz vor dem planetarischen Super-GAU lässt Horstmann die Handlung mit der Ausgangsposition des ersten Kapitels neu beginnen. Als wäre nichts geschehen und als wäre die Erde nur ein Spielball eines sich in einem lapidaren „einmal ist keinmal“ erschöpfenden demiurgischen Schluckaufs. Trotzdem ist die augenzwinkernde Frage nach dem Ertrag des Romans nicht richtig gestellt, es sei denn, man akzeptiert eine paradoxe Antwort: Die missglückte Wiederherstellung mit all ihren Folgen, dieses groteske und kosmisch-komische Verwirrspiel war nicht umsonst, weil es umsonst war. So legt Horstmann seinem Halbgott in dem Gedichtzyklus „Also spricht Jaldabaoth“ auch die Worte in den Mund: „Selbst / wenn es mein Fehler gewesen wäre, / habe ich keinen gemacht. / Es ist ein Irrtum, / mit den Irrtümern aufzuräumen.“Frank Müller: Medientaugliche Ausleuchtung der Apokalypse. Gießener Hochschullehrer Ulrich Horstmann legt neuesten Roman „J“ über Pfuschergott Jaldabaoth vor. In: Gießener Anzeiger, 30.1.2002.
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Seit Horstmanns Gastaufenthalt an der University of Pretoria, Südafrika im Jahr 1979 kennzeichnet eine geografische Spannung zwischen der westfälischen Provinz Deutschlands und den Staaten Afrikas seine Prosaarbeiten. Dient in der Erzählung „Steintals Vandalenpark“ (1981) Lüderitz als Einschreibfläche für apokalyptische Spekulationen, und grassiert im Roman „Das Glück von OmB’assa“ (1985) die „Hartleibigkeit von Mombasa“ (eine epidemisch um sich greifende Verstopfung), so wird in „Patzer“ (1990) Botswana zum Ausgangspunkt einer außerirdischen Invasion. In der Wüste Afrikas offenbaren sich dem Apokalyptiker Horstmann die Bilder vom Anfang und vom Ende der Menschheit, die „unbegrenzte“ Fortdauer der Welwitschia gilt ihm gar als Kontrapunkt zum Innovationstempo der modernen Zivilisation. (…) Zeitungsüberschriften, Radio- und Fernsehsendungen künden immer wieder von einem angeblichen Wahlbetrug in Windhoek und dem anschließenden Luftangriff der südafrikanischen Armee auf den gut neuntausend Meilen vom Münzmarer Dom entfernten Tintenpalast. Da sich aber beide Bauwerke „wegen eines schweren Dachschadens zum Verwechseln ähnlich sehen“, und sich auch sonst die Bezüge zwischen Neinsberg, Skeleton Coast, Lüderitz, der Etosha-Pfanne und Deutschland immer weiter verdichten, ereilt beide Gegenden schließlich das gleiche „Schicksal“: Die finale Katastrophe bleibt aus. (…) Dazu passt, dass das Geschehen nach dem Muster eines zyklischen Geschichtsbildes wieder gleich von vorne zu beginnen scheint und auf der letzten Seite in Windhoek ein Scharfschütze in Stellung robbt.
Frank Müller: Judgement-Day in Windhoek. Ulrich Horstmanns herrlich überdrehte Romangroteske „J“ spielt zur Hälfte in Namibia. In: Allgemeine Zeitung Namibia, 8.2.2002.
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„Das Glück von OmB’assa“ (1985) und „Patzer“ (1990) durchbrechen mit der Schilderung von Beinahe-Katastrophen die „kupierte“ Version der modernen apokalyptischen Erzählung, die nach Auskunft der Literaturwissenschaft die postapokalyptische Zukunft nicht mehr als Neues Jerusalem denkt, sondern als postatomare Landschaft ohne den Menschen. In beiden Büchern findet – trotz aller Ankündigungen – der finale Akt und damit die Erlösung überhaupt nicht mehr statt. Neu geboren wird allenfalls der Einzelne. Diese Relativierung der Menschheitsdämmerung, die in Wirklichkeit keine ist, sollte man sich noch einmal in Erinnerung rufen (…). Vielleicht (…) kann man sogar folgende These wagen: In Horstmanns Prosawerken wird die unterschlagene Apokalypse gleichsam durch die Hintertür wieder hineingespielt, und zwar durch ihr Ausbleiben. Ungleich fataler nämlich als die apokalyptische Reinigung der als unerträglich und schlecht empfundenen Welt ist die „apokalyptische“ Perpetuierung des Übels in endlosen Kreisläufen wie Horstmann sie als Verehrer von Walter M. Millers jr. Roman „A Canticle for Leibowitz“ vor Augen hat. „J“ zeigt, dass es kein Entrinnen vor der göttlich-menschlichen Unnatur gibt, in Münzmar nicht und auch nicht in unserer eigenen aufpolierten Scheinwelt. (…) Das ist Horstmanns zeitgemäße Fassung der klassischen Theodizee: die Rechtfertigung des Übels dieser Welt angesichts eines Gottes, der nicht aus seiner Haut kann.
Frank Müller: Der Roman als Pfuschwerk. Ulrich Horstmanns „J“ erzählt von der Erde als Baustelle, einem missglückten Weltuntergang und der Zerfahrenheit literarischer Produktivität. In: literaturkritik.de, 4. Jahrgang, Nr. 3, März 2002, S. 95-101.
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Warum man „J“ gelesen haben muss? Vielleicht, um das Schlossbergcenter, das Fitness-Studio oder die Buchhandlung Elwert mit ganz anderen Augen zu sehen. Oder den Marktplatz. Denn dort beginnen nach Beendigung des Wochenmarktes jene Aufräumarbeiten, die Horstmann zufolge nur als Metapher für einen weit globaleren Prozess zu lesen sind.
Frank Müller: Ein Pfuschergott soll sich bewähren. Ulrich Horstmanns überdrehte Romangroteske „J“ spielt in Marburg. In: Neue Marburger Zeitung, 1.3.2002.
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Es ist niemand anderes als J, der hier an seiner eigenen Geschichte herumfeilt. Aber er schreibt sie nicht nur auf. Er schreibt sie auf, damit sie passiert und – Vorsicht, Kausalitätsschlinge! – das Erzählen zur Veranlassung für das Erzählte und damit für die Existenz des Erzählers selbst wird. Untermalt vom Quietschen des scheinbar defekten Endlosbandes im Studio „Sandkasten“ entsteht so ein melancholisches Bild des literarischen Schöpfungsprozesses: Unvollkommen, aber durch nichts zu vervollkommnen, Geschichten hervorbringend, aber seinerseits Produkt einer fabelhaften Realität. Oder, etwas handfester: Der Roman als Pfuschwerk – so hingeschludert wie die von ihm erzählte Wirklichkeit. Js selbstreflexives Erzählen und Erzähltwerden ist eine Zumutung für den Leser, da es den Text kontingent erscheinen lässt. Aber eine noch größere Zumutung ist, dass es ihn diesem Kontingenten so ostentativ ausliefert.
Frank Müller: Der Roman als Pfuschwerk. Über Ulrich Horstmanns herrlich überdrehte Romangroteske „J – Ein Halbweltroman.“ In: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, Nr. 126: architext. Wien 2002, S. 42-44.
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Münzmar heißt die Stadt, in der die Geschichte spielt, doch schnell wird klar, dass hier viel Marburger Lokalkolorit eingeflossen ist. Von der Oberstadt über das Klinikum bis zu diversen Cafés und Fitness-Studios kann der Leser die aberwitzige Story auf Schritt und Tritt mitverfolgen. Mit einer Heiligenfigur im Münzmarer Dom geschehen wundersame Dinge, eine Journalistin heftet sich an die Fersen des Halbgotts, Fernsehteams werden hektisch, polnische Pilger kommen und Uni-Professoren sind ratlos – „J“ ist eine ebenso unterhaltsame wie absurde und vor allen Dingen stilistisch anspruchsvolle Geschichte, in der dem Leser viel bekannt vorkommt, jedoch nichts so ist, wie wir es aus dem Alltag kennen. „J“ von Dr. Ulrich Horstmann erscheint ab heute täglich in der OP auf der Seite „KULTUR / ROMAN“. Internet-Nutzer erfahren mehr über die Arbeit Dr. Ulrich Horstmanns auf seiner Homepage www.untier.de.“
Carsten Beckmann: Auf der Stadtautobahn sitzt ein Halbgott auf der Leitplanke. Dr. Ulrich Horstmanns „J“ erscheint ab heute in der OP als Fortsetzungsroman. In: Oberhessische Presse, 10.5.2002.
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Max Lorenzen: Die Lehrjahre eines Pfuschergottes. Ulrich Horstmanns Roman „J“. In: philosophia-online.de (= Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart.), 2001. Manuskript als PDF