„Flugkünstler“ – Plastik von Walter Gebert (2008)

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Mein ‚Anschauungsobjekt’ nimmt auf eine, ich möchte sagen, sehr persönliche Weise auf Ulrich Horstmanns Roman Rückfall Bezug.

Der Vogel hier ist ein Mauersegler. Der Mauersegler ist ein außergewöhnlicher Flugkünstler, so auch der Titel dieser Plastik. Er spielt in dem Roman und auch sonst bei Ulrich Horstmann eine zen­trale, vorder- und hintergründige Rolle. An ihm hängt alles. Es ist nicht die weiße Taube des Heili­gen Geistes und auch nicht Yeats‘ „golden bird of Byzantium“, sondern die Verkörperung einer dunklen Macht, ein schwarzer Himmelsbote. Er kennt das Leiden und den schlimmen Zustand der Welt, den er nach Kräften zu heilen versucht. Sein Ziel ist die Verknüpfung des Getrennten, Ausein­anderbrechenden, was sich schon daran zeigt, daß er zweimal im Jahr tausende Kilometer zurück­legt, um Europa mit Afrika, genauer Südafrika (dem zweiten Schauplatz des Romans), zu verbin­den. Doch das ist bei weitem nicht alles. Ich zitiere:

„… kaum sind sie hier, beginnt das alte Lied. Schwärme von Fliegen steigen in die Luft, Schwa­den von Motten und Spinnen beginnen, das seidenmatte azurne Übertuch, die hauchzarte Früh­lingsgaze da oben, zu benagen und zu zerfressen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sind die Mauersegler deshalb damit beschäftigt, das Ungeziefer einzusammeln und den Himmel mit Riesenstichen und heißer Nadel wieder zusammenzuflicken. Damit sich kein Riß auftut im straff gespannten, makellosen Blau. Aber während sie den Osten halbwegs auf Vordermann ge­bracht haben, dellt sich der Westen fadenscheinig ein, hat es den Süden irreparabel zermürbt, und endlich können sie nicht mehr an sich halten wie die ersten Wochen noch und müssen ihrer Frustration in spitzen Schreien Luft machen und sich lauthals über die Sisyphusarbeit entrüsten, die ein grausames Schicksal ihnen aufgebürdet hat, während sie dabei noch ihr ätherisches Garn hinter sich herziehen und verknüpfen, verknüpfen, verknüpfen, was sonst sich aufzutun, zu gähnen, zu klaffen begänne und das über unseren Köpfen hervortreten ließe, was das Firma­ment wohlweislich verbirgt, weil keine Kreatur den Anblick ertrüge. … Und was ist das, was nicht erscheinen darf? – Die überirdische Verwahrlosung, der kosmische Huddel, die ins Leere laufenden Lebenslinien, der weltweite Filmriß des Demiurgen natürlich.“

Man erkennt die Beziehungen. Ich lasse den Mauersegler hier allerdings nicht das azurblaue Himmelsgewölbe zusammennähen: das wäre technisch etwas schwierig geworden, und außerdem schien mir das Bild zu poetisch und nicht ganz zu dem zu passen, was ich oder was sich ausdrücken wollte. Die Verknüpfung erfolgt an diesem kuppel- oder giebelförmigen Gebilde, das durchaus auch mit einem Zelt verglichen werden könnte. Das wäre dann das Zelt in dem Konzentrationslager, in dem die Engländer während des Burenkrieges ihre Gefangenen unter qualvollen Bedingungen eingesperrt haben. Heinrich Wilhelm Horstmann, der Urgroßvater des Er­zählers, versucht zwar eine Befreiung der Insassen, indem er unter dem Stacheldrahtzaun hindurch­kriecht und eine Öffnung in das Zelt schneidet, aber der Schlitz wird sogleich von innen „mauerseg­lerflink“ geflickt, da die Betroffenen sich mit ihrer aussichtslosen Lage abgefunden haben und da­mit auch uns den Anblick des Schrecklichen ersparen. Von Heilung kann hier keine Rede sein, wohl aber von heilsamer Ver­hüllung.

Bliebe noch diese am Seil oder Tragegurt aufgehängte Gestalt in der Mitte: ein Luftfahrer oder blinder Passagier des Mauerseglers, der offenbar ruhig und unbeirrt seiner Schreibarbeit nachgeht, ohne sich seiner prekären Situation – er balanciert ja samt Unterbau auf einem Trapez – bewußt zu sein. Diese Person ist der eben erwähnte Heinrich Wilhelm Horstmann. Die ostwestfälische Arbei­termütze und die typisch Horstmannschen Gesichtszüge, die mich, nebenbei bemerkt, eine Menge Arbeit gekostet haben, machen ihn dazu. Außerdem sitzt er in einer aufrecht stehenden Kiste, wie sie von der Firma, bei der er beschäftigt war, der Stärkefabrik Hoffmann in Salzuflen, zum Versand ihrer Produkte verwendet wurde. Das Firmenlogo, die weiße Katze mit der erhobenen Pfote, muß man sich auf der Stirnseite der Kiste denken. – Dieser Heinrich Wilhelm Horstmann also, ein litera­risch wohl wenig ambitionierter Mann, stellt sich hier in der Rol­le des Schreibenden dar. Was schreibt er? Es ist ganz klar eine Seite des uns schon bekannten Ro­mans, in dem er selbst als Haupt­person auftritt. Er hat sich damit unversehens in Ulrich Horstmann, den Urenkel und Erzähler der Geschichte, verwandelt. Dieser will partout nichts mit seinem heute hier anwesenden Namensvetter zu tun haben, aber es kommt mir vor, als sähe ich unter dem Segler auch einen mir nicht ganz unbe­kannten Gießener Professor, wie er im Hörsaal am Pulte steht und sich über sein Vorlesungsmanus­kript beugt.

Sie sehen, hier wird mit Mehrdeutigkeiten jongliert – oder handelt es sich bereits um eine milde Form von Verknüpfungswahn? Das Ganze ist nicht zuletzt auch ironisches Spiel, Bedeutungskla­mauk, eine spaßhafte Inszenierung. Und damit wäre dann auch die Funktion des rückwärtigen Ele­ments erklärt – es ist eine Theaterkulisse – und ebenfalls die Frage beantwortet, warum die einzel­nen Teile versatzstückhaft an einem Gerüst aufgehängt sind.

Walter Gebert: Kommentar zur Plastik „Flugkünstler“, August 2008.