Rückbau

„Man verkommt unmerklich, wenn man älter wird.“ – Nach dem kollektiven rückt verstärkt der eigene Verfall in den Blick.

 

In den Knochen die Paläoanthropologie. Die Sammler und Jäger krepierten, wie man hört, mit Fünfundzwanzig, Sechsundzwanzig, Siebenundzwanzig. Ein Methusalem, der die Dreißig überschritt. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Irgendwann im dritten Jahrzehnt erfolgt der intellektuelle Abgang. Danach führen die meisten eine erfolgreich-honorige Existenz im Sarkophag unter der Schädeldecke.

Es gibt kein untrüglicheres Zeichen für die geistige Krankheit zum Tode, die uns am Ende der ersten jener drei Generationen, die wir zu durchleben pflegen, heimsucht, als die Attitüde der Weisheit, die senile Frühdreißiger zur Absonderung unausgegorener Sinnsprüche bewegt.

Eigentümlich wesensgleich fühle ich mich mit Greisen, die mir beim alltäglichen Lauf auf der Promenade entgegenwanken. Ich nehme solche Wahlverwandtschaft als ein gutes Zeichen, dünkte ich mich meiner Generation doch schon immer um Jahre voraus.

Aus: Hirnschlag. Aphorsimen – Abtestate – Berserkasmen. Göttingen 1984.

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Wer sie mit vierzig noch alle beisammen hat, der hat auf dieser Welt allerdings nichts verloren.

Langsam wird man glockenförmig. Die Schwerkraft fordert ihren Tribut.

Aus: Infernodrom. Programm-Mitschnitte aus dreizehn Jahren. Paderborn 1994.

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Unversehens sackt man in eine Seichtigkeit ab, wo der Selbstekel laicht wie Froschlaich. Man schöpfe das aus bis zum Kitzeln der Kaulquappen in der hohlen Hand.

Vom Rowdy bin ich zu meinem eigenen Roadie geworden und baue ab.

Irgendwann zwischen vierzig und fünfzig erreicht man die dritte Welt. Die alten Vertrautheiten, nur überwachsen von Rührmichnichtan, die alten Bekannten in Elefantenhaut, jede Aussicht rundumverglast. Auf Schritt und Tritt feine Brechungen, andeutungsvolle Spiegelreflexe. Das Elend lüftet sein Inkognito, verbeugt sich aus der Radkappe, vor der du mit einem Streichholz die verbleibende Profiltiefe mißt.

Aus: Einfallstor. Neue Aphorismen. Oldenburg 1998.

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IV.

Es passiert nichts.

Trotz wachsender Beharrlichkeit
spielt sich sehr lange nichts ab.

Dann herzlich wenig.
Ein paar Schuppen stieben.
Das muß genügen.

Der Anfang ist gemacht.
Wer die Zeichen zu deuten weiß,
verdoppelt seine Anstrengungen.
Und wird belohnt.

Als erste gibt sich
die Kopfhaut eine Blöße
und läßt fahren dahin,
punktuell, stellenweise, radial.
Dann bläht der Lebenshunger

das restliche Leder
– gestärktes Bettlaken
über der Windmaschine –
und leiert es aus. Unedel geknittert
schlackert die Hülle
am Halbmast der fetteren Jahre.

Aus: Göttinnen, leicht verderblich. Gedichte. Oldenburg 2000.