Frank Müller: Wer ist Klaus Steintal? (2018)

Klaus Steintal tritt anfangs als Ulrich Horstmanns Pseudonym in Erscheinung und geistert fortan als literarischer Doppelgänger durch dessen Werke. Das macht es möglich, Horstmanns Werk als Steintal-Geschichten (so der Titel einer Monografie von Rajan Autze und Frank Müller aus dem Jahr 2000) zu dechiffrieren. In Steintals „Biografie“ überschneiden sich eine Poetik des Suizids, apokalyptische Visionen und die lustbetonte Simulation des eigenen Verschwindens. Auch lebensbejahende Züge werden in Steintals Handeln sichtbar, wobei diese Impulse ausnahmslos in der Umsetzung scheitern. Der insbesondere in Horstmanns Theaterstücken und Hörspielen vorgeführte Aktionismus offenbart die Kehrseite eines gutgemeinten Humanismus. Er zeigt, dass es im Umgang mit apokalytischen Umbrüchen keine einfachen Lösungen und Patentrezepte gibt und ein Umsturz überkommener Systeme oft nur andere, nicht weniger widersprüchliche Konstellationen in die Welt setzt. Scheinbare Auswege gebären nur neue Rettungslosigkeiten. So verkörpert Steintal nicht in jedem Fall ein programmatisches „anthropofugales Denken“, sondern mitunter auch eine vertrackte „List der Unvernunft“, ein unwillentliches In-den-Wind-Schreiben zweiter Chancen. Anhand der folgenden Wegmarken – ursprünglich zusammengetragen als erläuternder Kommentar zum Interview „Suicide by knight“ (2018) – mögen die ästhetische Produktivität und Vielschichtigkeit der Doppelgängerbegegnung in Ulrich Horstmanns Werk greifbar werden.

 

Biografie Klaus Steintal

1778: Im Januar dieses Jahres reist der Schriftsteller Jacob Michael Reinhold Lenz ins elsässische Waldersbach zu dem Pfarrer der Grafschaft Steintal, Johann Friedrich Oberlin. Georg Büchner hat die Reise und den sich verschlechternden Geisteszustand Lenzens in seiner Erzählung Lenz (1839) literarisch verarbeitet.* Horstmann hat sich vermutlich von jener Szene inspirieren lassen, in der die literarische Figur Lenz von der Rückseite des Gebirges, dort, „wo die Täler sich in die Ebene ausliefen“, durch die menschenleere Bergwelt und bei einbrechender Dunkelheit ins Steintal nach Fouday gelangt.

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1972: Klaus Steintal debütiert als Pseudonym Horstmanns mit den Prosatexten Höllenfahrt und Unter der Großen Ebene in der von Ulrich Horstmann und Jürgen Gross herausgegebenen Literaturzeitschrift Aqua Regia.

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1976: Unter dem Titel „Er starb aus freiem Entschluss“ gibt der Literaturwissenschaftler Ulrich Horstmann die nachgelassenen Schriften des jungen Selbstmörders Klaus Steintal heraus. Dessen literarische Versuche deutet Horstmann als „Fragmente und Sedimente einer vorzeitig zu Ende gebrachten Ontogenese“. Laut Herausgeber – Horstmann wurde am 31.5.1949 im westfälischen Bünde geboren – starb der am 15.3.1949 ebendort geborene Steintal durch einen absichtlich herbeigeführten Frontalzusammenstoß in den Trümmern seines Wagens.

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1980: Das Hörspiel Gedankenflug versetzt Steintal in die Rolle des Raumschiff-Kommandanten der „Arche III“, dessen einziger Kommunikationspartner die virtuelle Stimme des Bordcomputers Berkeley ist. Nachdem er einige Überlegungen über die Realität der Außenwelt angestellt hat (an den Computer gewandt: „Ich bin deine Vorstellung“), verstirbt er und wird Teil von Berkeleys Datenmuster.

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1981: Im Theaterstück Würm finden sich die Überlebenden von „Nachkrieg III“ in einem heruntergekommenen Museum zusammen. Unter ihnen befindet sich der „drittklassige( ) Aushilfspoet“ Steintal. Dieser vernichtet die Kunstwerke, setzt Höhlenbilder an ihre Stelle, und wird dafür vom Museumsdirektor erschlagen. – Im Stück Terrarium bevölkert Steintal mit den letzten Exemplaren der Gattung eine Anlage für Menschenhaltung, einen galaktischen Zoo. Sein Versuch, die zur Affenhorde dezivilisierten Menschen zu einer neuen Kultur zu führen, misslingt; er perpetuiert doch nur die alte Herrschaft des getöteten Alphamännchens. – „Wer Qual und Leid ausrotten will, muß zunächst ihren Verursacher, den Menschen, ausrotten“. In der Erzählung Steintals Vandalenpark preist der Zivilschutzbeamte Klaus Steintal die Schönheit der Menschenleere und plädiert für den ungehinderten Einsatz der atomaren Vernichtungspotenziale.

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1982: Als Parodie auf die ökologische Vision der Zeit entwirft das Hörspiel Grünland eine Gesellschaft, die den Ersatzgott „ÖKOL-ÖKOLOG“ anbetet. Ähnlich wie in Terrarium übernimmt Steintal die Rolle des befreienden Aufklärers. Durch den Sturz des theokratischen Regimes ebnet er jedoch nur einem neuen, durch Technologiegläubigkeit geprägten Despotismus den Weg.

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1983: „Das Korrekturlesen übernahm dankenswerterweise Herr K. Steintal.“, heißt es auf einer der ersten Seiten von Ulrich Horstmanns Habilitationsschrift Ästhetizismus und Dekadenz, eines Buchs, das mit der Literatur des fin de siècle „Beschreibungskategorien für eine nicht-humanistische, menschenferne und anthropofugale Kunst“ untersucht. – In seiner Hauptschrift Das Untier verknüpft Horstmann Suizid und Apokalypse. Der Selbstmord, so heißt es, sei ein „subjektivistisch verkürzter Reflex apokalyptischer Sehnsüchte“.

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1984: Im Theaterstück Silo – dem dritten Stück der „Trilogie aus der Nachgeschichte“ – versucht Steintal, das Zünden der letzten Atomrakete zu sabotieren. Er verstirbt, nachdem er angeschossen und schwer verletzt gezwungen wurde, doch beim Raketenstart behilflich zu sein.

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1985: Steintal und seine geschiedene Frau Barbara werden einem extraterrestrischen Petitionsausschuss vorgeführt, der darüber zu befinden hat, ob die Erde von einer „Sanierungsmaßnahme“ (vulgo: Zerstörung) bewahrt bleibt. Am Ende des Hörspiels Petition für einen Planeten werden beide Bittsteller exekutiert, noch bevor sie die Situation verstehen und einordnen können.

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1989: Ulrich Horstmanns Gedicht „Doppelgänger“ – enthalten im Band Schwedentrunk – inszeniert das zweite Ich im Spannungsfeld von lustvoller Selbstentgrenzung und Einschränkung der eigenen Möglichkeiten.

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1990: Im Roman Patzer verteilt Horstmann den Namen seines Weggefährten Steintal auf die Figuren Steinchen und Sterntaler.

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1995: Horstmanns Prosaband Konservatorium wird nach dem „plötzliche(n) Ableben des Autors“ von dessen ehemaligem Doktoranden Klaus Steintal veröffentlicht. Im Nachwort referiert Steintal eine Passage aus Horstmanns Testament. Darin wird der akademische Schüler mit der Herausgabe des literarischen Nachlasses betraut, weil, so die Formulierung Horstmanns, „für mich der Name Klaus Steintal einen lebensgeschichtlichen Wendepunkt, einen Aufbruch“ markiert.

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2000: Rajan Autze und Frank Müller veröffentlichen die Monografie Steintal-Geschichten, eine Spurensuche, die Horstmanns Werk aus der Doppelgängerbegegnung rekonstruiert.

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2001: In dem online publizierten Gespräch „Zwischen Melancholie und Makulatur“ tritt Steintal erstmals als Interview-Crasher auf.

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2005: Ulrich Horstmanns Gedicht „Steckbrief K.S.“ kriminalisiert den Doppelgänger. Der Gesuchte, so heißt es, sei „ein Parasit, sich mästend an dem implantierten Hirngespinst, / sich an seinen Hirngespinsten mästen zu können“.

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2012: In der in Sinn und Form erschienenen Polemik Wider das Herumdoktern an den Notausgängen spricht sich Ulrich Horstmann für den von eigener Hand herbeigeführten Suizid aus und geht mit der aktiven Sterbehilfe hart ins Gericht. Der Sterbehelfer sei ein „Auftragskiller“, sein vorgeblicher Wille, einen anderen zu erlösen, eine glatte Lüge. Auch derjenige, der aktive Sterbehilfe für sich in Anspruch nimmt, kommt nicht besser weg.

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2015: In den aphoristischen Dialogen der Online-Publikation Damoklesschwertfischfangschiffbrüchige arbeiten sich Horstmann und Steintal intensiv aneinander ab. – In Michael Kremers „Kleine(m) Horstmann-ABC“ (enthalten im von Alexander Eilers herausgegebenen Sammelband Entlassungspapiere) findet sich der Eintrag „K wie Klaus Steintal“. – Ulrich Horstmanns Anthologie Mit Todesengelszungen versammelt Texte von Denkern, die den Selbstmord gegen seine christliche Verteufelung rehabilitieren, sowie Schriftstellern, die den letzten Ausweg selbst für sich in Anspruch nehmen.

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2018: „Der Tod, egal ob durch Fremdeinwirkung, Organversagen oder von eigener Hand, wird totgeredet. Wir brauchen mehr Rücksichtnahme, und vor allem brauchen wir ein Mitspracherecht für die, die auf sich Rücksicht nehmen können, die Exlebhaften und Postmoribunden. Deshalb habe ich mir erlaubt, Klaus Steintal ins Spiel zu bringen“. Zu seiner Einstellung zu Selbstmord und aktiver Sterbehilfe befragt, zieht Ulrich Horstmann seinen Doppelgänger als kompetenten Gesprächspartner hinzu. Allerdings entbrennt im Laufe des Gesprächs „Suicide by knight oder Was macht Ockams Rasiermesser?“ ein Streit um die Originalität und Urheberschaft von Horstmanns/Steintals Hervorbringungen, den das zweite Ich nicht überleben soll.

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2019: Wer fördert hier eigentlich wen? In Band 3 von Horstmanns Gesamtwerk (Gedichte und Aphorismen) erscheint neben dem Logo des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) das vom Wiener Künstler Wolfgang Sinwel entwickelte Logo der in Phoenix, Arizona ansässigen „Klaus Steintal Foundation“.

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2021: Horstmanns Schwermutmacher (2021) erscheint mit folgender Schlussbemerkung: „Als akademischer Putzerfisch bei den Grossen – Edgar Allan Poe, Oscar Wilde, Ted Hughes, Philip Larkin, J.M. Coetzee – im Einsatz, hat Ulrich Horstmann sich doch auch selbst freizuschwimmen versucht, nach seinem Auftauchen unter den Kleist-Preisträgern (1988) aber womöglich Schuppen gelassen. Vielleicht deshalb der Zug in die dunklen Unterströmungen, dem sich die Robert Burton-Übersetzung aus dem nämlichen Jahr ebenso verdankt wie der Essayband Ansichten vom Großen Umsonst (1991) und der Versuch über ein angeschwärztes Gefühl (2012).“ – Klaus Steintal

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2022: Die zweite Abteilung von Das Buch zuiel und andere leere Versprechungen (erster Auszug 2022) wird eingeleitet von dem folgenden Aphorismus: „Schon mit verkeifter Zunge: Probelügen beim Gevatter (Klaus Steintal)“.

 

* Diese Quelle hat der Wiener Publizist Bernhard Kraller erschlossen.