Flügelschlag der Melancholie
Die „schöne Kunst der Kopfhängerei“ ist für Horstmann das genaue Gegenteil von Trübseligkeit und Depression; sie ist eine emotionsgefärbte Form der Klarsicht.
Die Qual ist endlich geworden, die „Wunde des Nichts“, an der der Melancholiker laboriert, läßt sich auf Knopfdruck schließen, die Menschenleere, ehedem nur ausdenkbar, steht bombensicher ins Haus.
Aus: Der lange Schatten der Melancholie. Versuch über ein angeschwärztes Gefühl. Essen 1985.
Wir (leben) unter dem Himmel eines Großen Umsonst, über dem Abgrund des Nichts und unserer eigenen Nichtigkeit. Demjenigen, dem es nicht mehr gelingen will, die Augen vor dieser Tatsache zu verschließen und sich den festen Boden des Bewirkens und der Wirklichkeit unter die Füße zu lügen, demjenigen also, der einbricht und abstürzt, sagt der gesunde Optimismus Schwermut nach, nennt ihn weltfremd, spleenig, lebensuntüchtig (…). In eben dieser Situation des Abgeschriebenseins und der Randständigkeit befand sich auch Robert Burton, als er sein Buch begann. Nur war sie kein Handicap, sondern gerade Bedingung der Möglichkeit seines bewundernswerten Selbstverständigungsversuchs, der therapeutisch ansetzt (…) und den Autor wie den Leser nicht von der Melancholie heilt, sondern von dem Glauben an die Heilung. Das Heile, so ließe sich die entsprechende Lektion formulieren, ist nämlich ebenso wenig von dieser Welt wie das Heilige; das angebliche Gegenteil der Schwermut, die frohgemute Normalität, ist ungleich verrückter, als der pathologisierte Störenfried und eine eiserne Gesundheit das Kennzeichen der wirklich hoffnungslosen Fälle.
Aus dem Nachwort zu: Robert Burton. Anatomie der Melancholie. Zürich 1988.
In der Geschichte der Gattung war diese Grabesstimme (der Melancholie) nie tot zu kriegen, und die Kunst des Großen Umsonst hat noch in jeder Epoche, die sie abschaffen wollte, über kurz oder lang Wiederauferstehung gefeiert. Es ist wahr, sie hat nie die Lautstärke der Sieger, der Evangelisten, der Fortschrittsapostel erreicht, ist im Gegensatz zum Gebrüll und Getöse der diversen Kreuzzüge für diverse heilige Sachen nie über das Flüstern hinausgekommen: eine leise Widerrede, immer am Rand des Versummens, aber nie unterzukriegen. (…) Deshalb muß man auch endlich aufräumen mit der böswilligen Unterstellung, die Schwermut sei menschen- und lebensfeindlich. Das Gegenteil ist wahr, der Melancholiker hat ein erotisches Verhältnis zur Welt, er liebt das, was ihm begegnet – allerdings auf die einzig ehrliche Art und Weise, die die Eintagsfliegenexistenz zuläßt, im Modus des Loslassens und Abschiednehmens nämlich. (…) Die Kunst ist die natürliche Alliierte der Melancholie, weil sie Vergänglichkeit, das ewig Unewige unserer Existenz, nicht verleugnet, sondern wahrnimmt und darauf reagiert.
Aus: Die Kunst des Großen Umsonst. Melancholie als ästhetische Produktivkraft. In: Ansichten vom Großen Umsonst. Essays. Gütersloh 1991.
Gewiß, die Gegner des melancholischen Zu-Ende-Denkens fechten solche Vorhaltungen nicht an. Melancholie war ihnen immer schon das ganz andere ihrer selbst, den Gläubigen die gottlose Verzweiflung, den Heilenden das chronische Siechtum, den Geistreichen der Ungeist (…), den Planern die Obstruktion. Immer geht es damit im Kampf gegen das angeblich Kranke, Verrannte und Schädliche auch um den Beweis der eigenen Gesundheit und Effizienz, der sich am ehesten in der Überwältigung und Vertreibung des Widerparts, in der Auslöschung seiner Gegenbildlichkeit also, erbringen läßt. (…) Die Erfolgschancen ihres Unternehmens betragen einhundert Prozent; der gesunde Optimismus hat sich nie mit weniger zufriedengegeben. Seine Triumphe sind endlos, während die Melancholie Schlacht um Schlacht verliert, von Niederlage zu Niederlage taumelt und – sich in jeder einzelnen wieder erkennt und wiedergebiert.
Aus: Ein Rückzugsgefecht für die Melancholie. In: Ansichten vom Großen Umsonst. Essays. Gütersloh 1991.
Nirgendwo sind wir beweglicher als in der Leere, niemals einfallsreicher als nach dem Loslassen. Oder noch einmal anders: Wenn jeder „normale“ Mensch Augenblick hat, in denen er einsehen muß, „dass das Leben auf einer gewaltigen Welle des Todes in die Zukunft strömt (Hartmut Böhme), dann wäre der Melancholiker jemand, der geradewegs auf diese Todeswalze zupaddelt. Ausgestreckt auf einer Planke auf dem Floß der Medusa läßt er sich vom Wellenberg emporreißen, um Kurz vor dem Kamm und schon im Gebrodel der sich brechenden Flut den einzigartigen Punkt zu finden, an dem er sich in Gedanken hoch aufrichten kann, an dem er dank des Muts zur eigenen Schwere ins abkippen und haltlose Gleiten, ins ausbalancierte Abstürzen gerät.
Aus dem Vorwort zu: Die stillen Brüter. Ein Melancholie-Lesebuch. Hamburg 1992.
Rechts und links sieht er (der Melancholiker) die Kraftmeier, Kerngesunden, Zukunftsfrohen, die Anpacker, Macher und großen Beweger unter die Räder kommen, die sich nicht schnell genug drehen konnten, und preist die Blessuren. Er humpelt; deshalb bleibt er da auf den Beinen, wo sich alles überstürzt. Er kann sich nicht einreihen und anschließen; deshalb wirkt er auch eine Generation später noch nicht mitgenommen. Er ist taub gegen die Sirenenklänge, die schrillen, sich überschlagenden Stimmen des Fortschritts; deshalb geht die Halbwertszeit seiner Nachrufe in die Jahrhunderte.
Aus: Melancholie und Essay. In: Scheidewege, Jahrgang 28, 1998/9.