Buschmann. Erzählung. (2002)

Als ich aus der gekachelten Passage auf die Plattform trete, bin ich auch schon im Bilde. Der Sehnerv registriert: den Strang, sein penibel verdrecktes Betonbett, die überwölbte Starkstromschiene, hinterrücks Werbung. Der Blick wandert über die Handvoll Spätheimkehrer, abgekämpft, ausgefeiert, wechselgeschichtet, die so fallsüchtig dastehen, als rollte jedem gleich sein Radlager herein. Ich sehe die elektronische Null auf dem Fahrtrichtungsanzeiger blinken und lese den stationären Halbsatz darum herum: Nächste U7 Richtung Ausspannplatz in … Minuten. Gewahre den Kurzzug auch schon aus den Augenwinkeln, halbgesichtig in der Tunnelkurve – da gewinnt das Entscheidende Profil.

Nein, falsche Zeit. Das, was die Entscheidung getroffen hat, profiliert sich, überprägt alles andere: ein Gesicht schon jenseits der Bahnsteigkante, das weit vorstößt in den verbotenen Raum, das leicht in den Nacken geworfen auf diesen genüßlichen Teetrinker gegenüber zuhält quer durch den das Haar verwirbelnden Einfahrtsschwall. Folgsam ihr Körper, leicht schäbig kostümiert, und doch so anziehend in seinem Übergewicht.

Keine Zeit. Keine Zeit für Betrachtungen. Alles um sie herum unbeteiligt. Eingefroren. Tatenlos. Eine, ihre überdimensionierte Totenmaske. Herunterreißen! Geht noch. Geht schon noch. Zum Teufel! Schneller!

Nach einem Schritt in die richtige Richtung sehe ich mich losstürzen hinter der Säule hervor. Mit rudernden Armen durch den Stillstand, das Taube, Betäubte, Schalltote, in dem sich auch das Kennerhüsteln von nebenan gleich wieder verkapselt hat. Ich trete meinem hilfsbereiten Doppelgänger näher und seiner fliegenden Hast. Ein Ausgeheckter, dieser Held des Sich-dazwischen-Werfens und Nicht-zulassen-Wollens, Mit Gartenschere, Baumsäge und Asthippe von seinem Schöpfer in Form gebracht und hier in einem versenkbaren Kübel aufgestellt. Mit bis zu den Hüften angehebeltem Kniegelenk, andererseits aber fest verwurzelt in seiner guten Tat.

War ich zu zudringlich geworden? Oder bekam ihm das Kunstlicht nicht, die Botschaft, die er zu transportieren hatte? Vielleicht wurde er auch zu häufig gegossen und ertrank in der Zuwendung des Galeriepersonals. Jedenfalls ließ er bei meiner unbedachten Berührung so großzügig Grünzeug fallen, daß er bei der Finissage unweigerlich als Gerippe dastehen müßte.


II.


Sonderlich zugänglich hatte sich der Namhafte nicht gezeigt, als ich ihn am Tag darauf im Atelier anrief.

„Kritiker, Kapitalanleger, Connaisseur?“

„Ein begeisterter Besucher Ihrer Retrospektive.“

„Geist reicht nicht, ich brauche Multiplikatoren. Also, tut mir leid, junger Mann …“

„Ihr Lebensretter tut mir auch leid.“

„Ach, Sie sammeln Spenden. Und was darf’s diesmal sein? Wasserbetten für die Sahel-Zone? Bin selbst etwas klamm. Reicht Ihnen das?““Er blättert ab. Die wichtigste Person auf der Station.“

Bei ihm klingelt es.

„Bleiben Sie dran.“

Rasseln. Ungeölte Türscharniere. Großes Hallo.

„Wie die Heuschrecken“, empfange ich ihn bei der Rückkehr an den Apparat. „Ihre Multiplikatoren sind endlich eingefallen, habe ich recht? Da will ich nicht stören.“

„Was stimmt nicht mit der Installation?“

„Der Sprinter wird kahl.“

„Nicht schon wieder.“

„Doch.“

„Wie, sagten Sie, war Ihr Name?“


III.


Eine Halle, in deren hinterer Hälfte ein Bulldozer den Inhalt eines halben Warenhauses zusammengeschoben hat, um im Anschluß vor der Konsummoräne ausgerichtet und exakt auf der Höhe von fünf gigantischen Styropor-Stieren abgestellt zu werden. Zwei der Kunststoffkolosse liegen auf der Seite, die drei anderen halten sich zwar noch auf den Beinen, wirken aber nicht weniger ausgepumpt.

In einem Verschlag im Vordergrund stapelt sich Video-Ausrüstung, flankieren Monitore und Rekorder eine Staffelei, auf deren Leinwand aus wie übereinandergelegten durchscheinenden Gesichtern die Physiognomie einer von allen Zumutungen erlösten Erschlaffung Kontur gewinnt.

Nachdem er mich hat eintreten lassen, legt der Hausherr demonstrativ die Kette vor.

„Mein Prinzip“, lautet die Erklärung, „so arbeite ich.“

„Hinter verschlossenen Türen?“

„Unsinn“, er löst die Sicherung wieder, „verkettend. Ein Werk entringt sich dem anderen, und zugleich bleibt der Nachfolger unauflöslich mit dem Vorgänger verbunden.“

„Verstehe“, nicke ich.

„Sollte mich wundern“, gibt der Namhafte, der schon zu seiner altmeisterlichen Wirkungsstätte unterwegs ist, über die Schulter zurück. „Erkennen Sie sich wieder?“

Ich mustere das unfertige Dutzendporträt: „Müßte ich?“

„Verwurstet habe ich Sie jedenfalls.“

„Ver-?“

„Sie sind eingegangen, wenn Ihnen das besser gefällt. Hier.“

Er greift zur Fernbedienung. Ein Bildschirm flackert. Frauen- und Männerköpfe neben einem gekachelten Pfeiler lösen sich ab, löschen sich aus.

„Da.“

Das bin ich. Im Moment der Zügelung eines deplazierten Impulses, der Rückkehr in die Realität der Illusion, bei der internen Rückrufaktion, von der auch alle anderen ihr Abziehbild geliefert haben.

„Wer kann …?“

„Jede U-Bahn-Station hat ihre Videoüberwachung. Mein Nachbau auch. Voilà, die besagte Kettenreaktion, ohne die ich künstlerisch so steril wäre wie … Nein, kein Vergleich. Ist es nicht tröstlich?“

„Und ob“, stelle ich seiner Sprunghaftigkeit ein Bein.

„Was denn?“

„Die doppelte Verzahnung. Die ästhetische Fügung, die uns auch ohne meinen Anruf unweigerlich hätte aneinander geraten lassen.“

„Irrtum, Sie Metaphysiker.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich füge, Und was ich bearbeite, das fügt sich ein.“

Ich denke mir mein Teil.

„Sie denken sich Ihr Teil“, sagt der Namhafte nach einer Kunstpause.

„Weil ich das nicht in den Mund nehmen werde, was Sie mir hineinlegen wollen“, halte ich dagegen.

„Und das wäre?“

„Alter Trick! Darauf falle ich nicht herein.“

Wieder ein Knopfdruck. Er zieht die Augenbrauen hoch: „Halten Sie mich für einen Dilettanten? Was gibt es Abgeschmackteres als das Sicheinlassen mit Kollaborateuren. Deshalb lege ich Wert darauf, nur mit Unwilligen zu arbeiten. Die gröbsten Klötze geben die unwiderstehlichsten Skulpturen.“

Irgendwo spult etwas vor sich hin.

„Alles weitere in Ihrer Brieftasche.“

Ich ziehe die Lederhülle heraus, finde das Blatt, entfalte den Computerausdruck. Ein Name und die Adresse einer Privatklinik weit jenseits der Vororte. Darunter Anreisehinweise für Motorisierte und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel.

„Kann ich mir nicht erlauben, Sie Taschenspieler.“

„Abwarten. Und hier ist Ihre Kassette.“

Der Apparat hat sie herausgeschoben wie eine Zunge.

„Selbstlöschend. Einmal und nie wieder, Sie verstehen?“ Er läßt die Doppelspule vor meinen Augen hin und her drehen wie die Torsionsattrappe einer Kitschuhr. „Das führen Sie sich vor, wenn die ganze Geschichte vorbei ist. Zum Beweis Ihres unbändigen Eigensinns.“


IV.


Der Bedeutende sitzt oben auf seinem Bulldozer. Die Maschine rüttelt im Leerlauf. Seine Gesichtszüge vibrieren leicht. Das war vor fünf Minuten. Das war die Anfangseinstellung auf meinem Fernseher. Seither wird unmerklich Gas gegeben und die Kamera fährt ebenso langmütig weiter und weiter auf den Selbstdarsteller zu, der von dem hochtourenden Aggregat inzwischen so durchgerüttelt wird, daß die Zähne aufeinanderschlagen und jeder individuelle Gesichtsausdruck verwischt wie auf den Porträtüberlagerungen in seinem Verschlag.

In meinem Sessel komme ich auf die Idee, die Probe aufs Exempel zu machen. Ich halte das Band an, er geliert zum grienenden Standbild. Ich schalte auf Rücklauf. Stoppe. Drücke die Abspieltaste. Tatsächlich. Blizzard, White-Out, das elektronische Schneegestöber des Ungestalten, aus dem der Verwackelte an der Standbildstelle wieder hervorzappelt, als wäre nichts gewesen.


V.


Wen hat er mit seinen zwanghaften ‚Verkettungen‘ in die Betuchten-Klapse gebracht? Der Name auf dem Blatt sagt mir nichts, und der punktierten Initiale davor kann man nicht einmal entnehmen, ob es sich um Männlein oder Weiblein handelt.

Ich beschließe, meiner Neugier die Bremsbacken aufzublasen, wenn ich mich schon nicht zurückhalten kann. Also ein weiter Bogen um den Fahrscheinautomat. Kein Kontrolleur läßt sich blicken. Als die Ausgangstür der U-Bahn-Station vor mir aufwedelt, steht der nagelneue Überlandbus, der laut Fahrplan seit einer Viertelstunde unterwegs zu sein hätte, immer noch an der Haltestelle.

„Ab heute sind zwei Zylinder mehr Luft drin“, freut sich der Fahrer und läßt den Turbodiesel anspringen.

Zum zarten Vibrato zücke ich das Portemonnaie, in dem sich ein einziger großer Schein befindet, den er bestimmt nicht wechseln kann.

„Lassen Sie stecken“, winkt er ab und setzt den Blinker: „Die Jungfernfahrt ist für alle umsonst.“

Panoramastrecke mit breitem Grünstreifen im Autoatlas. Wir steigen kräftig, in der 3D-Bildpostkarte und auf der Leistungskurve des Kompressors. Neben den Serpentinen schmilzt die Verspätung in sich zusammen. Als wir den Vorsprung des Ausgemusterten eingeholt haben und die schwarze Abgaswolke des bekränzten Veterans vor uns die Paßhöhe vernebelt, ertönt eine durchdringende Fanfare. Die Mitbeförderten klatschen.


VI.


Wenn sich das Ankommen schon nicht verhindern ließ, kann ich auch fragen.

Der Pförtner stutzt und läßt mich wiederholen. Dann schüttelt er amüsiert den Kopf: „Erzählen Sie ihr das bloß nicht weiter, daß jemand sie unter die Patienten gesteckt hat. In solchen Dingen ist sie nämlich eine Mimose.“

Zur Sicherheit nicke ich heftig.

„Also, Sie gehen jetzt einfach durch das Hauptgebäude da vorn und in den Park. Summt um diese Zeit zwar einiges herum, aber die einzige Arbeitsbiene unter lauter Drohnen wird Ihnen schon auffallen.“
So ist es. Ich entdecke sie nicht nur, ich erkenne sie augenblicklich wieder, trotz Gärtnerschürze und Mütze, unter der sie ihr Haar hat verschwinden lassen. Wie sie sich vorbeugt – leicht übergewichtig -, um eine auseinandergefallene Staude zu umgarnen, das habe ich tief unter den Wurzelballen schon einmal gesehen.

„Sie sind die Selbstmörderin, richtig?“

Ein beinahe überdrüssiges Aufblicken: „Dann helfen Sie mir mal.“

Ich halte die Schnur, während sie die letzten widerspenstigen Pflanzenstengel einfängt und hinter die Absperrung dirigiert.

„Schöne Schleife. Kriegen Sie doch hin?“

„Sie haben ihm Modell gestanden für diese U-Bahn-Szene, wollte ich sagen.“

„Und sonst ist Ihnen kein Gesicht aufgefallen?“ Mit einer Hacke rückt sie dem Unkraut zu Leibe.

„Nicht daß ich wüßte. Hat er die Abgüsse angezogen?“

„Warum?“

„Das hier …“

„Ja?“

„… steht Ihnen viel besser.“

Sie unterbricht die Säuberungsaktion, stützt das Kinn auf den Hackenstiel und mustert mich geschäftsmäßig wie eine Kiste mit frisch angelieferten Setzlingen.

„Der hat noch nicht richtig ausgepackt, da baggert er schon das Personal an. Zu solchen Panikreaktionen besteht kein Grund, insbesondere für Künstler. Sie finden auf dem Gelände attraktive Mitpatientinnen vor, kann ich Ihnen versichern, die die Klinikleitung auf das weitherzigste zu interaktivem Verhalten ermuntert. Ihr Freund zum Beispiel hätte sie der Reihe nach beim Töpfern abholen und vom Scheitel bis zum Zehennagel mit seinem Polyesterharz bepinseln können; aber nein, für die Tiefebene kamen hier ja nur die Mitgenommensten in Frage. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, sollte Ihre Beschäftigungstherapie, nicht anders als die Gartenarbeit, biologische Vorleistungen und ästhetische Ideale …“

Die Gummistiefeldozentin, die inzwischen mit dem Zeigefinger nach mir sticht, als wolle sie Sichauswachsendes in meinem Brustkorb versenken wie Blumenzwiebeln im Mutterboden, macht mir Spaß, und als sie das merkt, klemmt sie mitten im Satz die Zunge zwischen die Zähne und überläßt die Ideale sich selbst.

Etwas verlegen bringe ich meine Klarstellung an. Sie streift sich beim Zuhören die Plastikhandschuhe von den Fingern und schlägt das Paar zur Säuberung klatschend über den Oberschenkel.

„Eigentlich schade, ich hätte Sie mir schon zurechtgebogen – wie Spalierobst.“

Das läßt sich der Adamsapfel nicht zweimal sagen. Als er wieder oben angekommen ist, nehme ich meinen Mut zusammen: „Hören Sie, wie kommt das …“

„Heraus damit.“

„Wie ist das zu erklären, daß ich Sie so gut riechen kann?“

Statt einer Antwort lacht sie aus voller Kehle, und in den Backenzähnen blitzen die Füllungen.

„Auch ungezogen …“ Als nächstes ist die Mütze an der Reihe, Die Augen verschwinden unter dem Schwall von halblangem Haar und müssen erst wieder freigelegt werden. „Auch ungezogen sind Sie schon ein besonderes Früchtchen. Also, wonach rieche ich denn?“

Wie durch Zauberei verwandelt sich der Duft, den sie verströmt, in das richtige Wort.

„Buchsbaum“, sage ich, greife ihren Arm und weiß genauso plötzlich, weshalb ich es mir in solcher Atmosphäre irrenhäuslich einrichten könnte.


VII.


In der Cafeteria schenkt sie mir über einem Kännchen Darjeeling reinen Wein ein. Ja, der Bedeutende, offiziell als Stipendiat in Neuseeland, habe sich hier vor zwei Jahren einer mehrmonatigen Behandlung unterzogen. Diagnose: extreme Erschöpfung und ein als präpsychotisch eingestufter Verknüpfungswahn, für den alles mit allem in den heimlichsten und unheimlichsten Verbindungen gestanden habe. Heilschlaf und lange Spaziergänge in der Umgebung hätten ihn in erstaunlich kurzer Zeit wieder zu Kräften kommen lassen. Von den schon automatisierten Vernetzungen des Nächsten und Fernsten, des Unbedeutendsten und Gewichtigsten, des Klinikalltags mit der politischen Großwetterlage aber sei er medikamentös lange ebensowenig abzubringen gewesen wie von der fixen Idee, eines nicht allzu fernen Tages an Schüttellähmung zu erkranken und sein Leben als arbeitsunfähiges Parkinson-Opfer beschließen zu müssen.

Mit den ersten Skizzen zu einem Unterwelt-Environment hätte sich aber schließlich auch hier alles zum Besseren gewendet, und nachdem das U-Bahn-Thema gefunden war, seien das Stationspersonal und die von ihm ausgewählten Patienten fast rund um die Uhr beschäftigt gewesen. Einen ungeheuren Strudel von Einfallen und Ideen habe er erzeugt, ein wirbelndes Zusammentragen von Material ausgelöst, Reigen des Durchspielens und Ausprobierens in Gang gesetzt, in denen nur zwei rabenschwarze Intervalle verrieten, daß sich gegen den Augenschein eigentlich zwei Inszenierungen wechselseitig zu stützen und aufzuschaukeln versuchten: die eines Untergangs und die einer Genesung.

„Lassen Sie mich raten, was die Krisen ausgelöst hat“, mische ich mich ein.

Sie verstummt, schenkt nach. Die Kandisstückchen purzeln eins nach dem anderen über den Löffelrand, als schöbe ein unsichtbarer Bulldozer, alles andere als maßstabsgerecht, Steinschüttungen über die Abbruchkante in ein gefräßiges Meer.

„Besetzungsprobleme?“

Sie nickt. Der Tee glänzt auf ihrer Oberlippe.

„Die Hauptpersonen überzeugten ihn nicht mehr“, spekuliere ich weiter. „Der eine das fleischgewordene Helfersyndrom und sie zu eindeutig lebensmüde. Beide Puppen und Dummies. Nicht Ausstrahlung, nicht Aura genug.“

„Wie ein nasser Sack“, ergänzt es leise.

„Bitte?“

„‚Sieh dir doch an, wie du fällst‘, soll er die Frau angebrüllt haben, ‚kippst ab wie ein nasser Sack. Die Leute sehen einmal hin und denken: Um die ist’s nicht schade. Willst du mich ruinieren, willst du mir meinen Ruf kaputtmachen, du Schlampe?'“

„Und da waren Sie schon …“

„Nein. Ich habe die Stelle am nächsten Ersten angetreten. Ein Mittwoch. Der Mittwoch, als mir der Rettungshubschrauber zur Begrüßung die ganzen Gladiolen plattgemacht hat. Sie hatte alles ausgetrunken, was einen lateinischen Namen führte, und zur Sicherheit einen Mundvoll Abflußreiniger hinterher.“

„Und er?“

„Der Neuseeländer? War ruhiggestellt und saß wie ein Ölgötze unterm Sonnenschirm auf der Terrasse. Allerdings muß ich seine Blickachse ein paar Mal gequert haben …“

„Weiter.“

„Was weiter? Er ist dann eben auf mich zugekommen, als es wieder ging.“

„Ich will das genauer wissen.“

„Bitte. Noch am selben Tag nach dem Mittagessen. Auf den Knien quer über die Gladiolen. Und geheult hat er wie ein Schloßhund. Reicht das?“

„Da konnten Sie nicht mehr nein sagen.“

„Nein.“

„Da haben Sie seinen Ruf vor dem Eingesacktwerden gerettet und sind ihm gefällig gewesen und haben sich verdoppeln lassen in Polyester und Fiberglas und nicht die kleinste Hautpore für sich behalten.“

„Das ist das Verfahren“, bestätigt sie.

„Auch unter diesem unmöglichen Kostüm?“

Sie tätschelt meine Hand auf der Tischplatte wie einen Hundekopf. Der Nagel des kleinen Fingers hat einen Schmutzrand, und die Streicheleinheiten der Rosenstöcke haben ihre Spuren zwischen den Knöcheln hinterlassen.

„Warum fragen Sie? Wie ich Sie kenne, Sie kleiner Ausbaldowerer, haben Sie da doch längst nachgesehen.“

Peinlicherweise kann ich die Zeche nicht zahlen, weil für meinen Schein nicht Wechselgeld genug in der Cafeteria-Kasse ist. „Man hat’s wieder nur dicke“, raunzt die Bedienung, bevor mir das Grüngürtelmodel aus der Patsche hilft. Weit ausholend beginne ich mit der Aussaat einer Erklärung.


VIII.


Der Rest ist schnell erzählt. Ich wollte mich beim Verursacher erkenntlich zeigen, beim Glücksbringer in der Werkschau, dessen Rohling sie dem Namhaften geliefert hatte – ebenso übrigens wie die Idee, den einzig Hilfsbereiten unter all den Geht-mich-nichts-ans von dem Hilflosesten und Ausgeliefertsten darstellen zu lassen,was es auf Erden gibt, einer Zierpflanze. Aber dieses Exemplar, beschloß ich im stillen Kämmerlein, sollte der Kunst nicht zum Opfer fallen wie seine vier oder fünf zurechtgestutzten Vorläufer. Es sollte zum Dank unter freiem Himmel neu austreiben können und, nachdem die Zwangsgestalt ausgewachsen war, in Frieden verwildern.

Der nächtliche Galeriebesuch war kein Problem,, denn ich bin diplomierter Sicherungstechniker und Lichtschrankenwärter, und darüber hinaus hatte die Spezialfirma, für die ich arbeite, die am Tatort installierten Infrarotdetektoren und Bewegungsmelder noch vor Jahresfrist überprüft und gewartet. Am Ende meines Urlaubs machte ich mich mit einer Sackkarre und einer schwarzen Plastikhülle ans Werk.

Ein Kurzschluß, ein Rascheln; schon war der Zug abgefahren.

Die geplante Verpflanzung des erholungsbedürftigen Corpus delicti in den satten Löß eines mir zugänglichen Bauerngartens unterblieb dann allerdings, weil sich der Bedeutende schon am nächsten Morgen wieder einmischte. Er tat das, wohl um in meinem Fall auf Nummer Sicher zu gehen, gleich dreifach: mit einer Notiz auf der Titelseite unseres Presseorgans, einem halbseitigen Artikel im Lokalteil und tags darauf – ohne Bezug zu dem Vierzeiler über einen dubiosen Ausstellungseinbruch – mit flächendeckenden Nachrufen ganz hinten, bei denen das Begnadete und Geniale sich in einem tragischen Unglücksfall mit tiefer Menschlichkeit und dem Unvollendeten des Werkes paarte.

Ein herrenloser Rüttler, belehrte mich der Zeitungsbericht, hatte diese wunderbare Vereinigung auf der Höhe seiner Schaffenskraft zustande gebracht, indem er sich in Zeitlupe am nachgiebigen Grabenrand verneigte, während der Namhafte unten den Fortgang der Verrohrungsarbeiten für seinen ‚Betonkreisel‘ in Augenschein nahm. Das Kunstwerk bestand aus einem tief im Boden versenkten Leitungsring mit zwei Pumpstationen, in den unter Luftabschluß Flüssigbeton eingespeist werden sollte, der auf diese Weise am Aushärten gehindert wurde und ewig zirkulierte. Nun würde es damit wohl nichts werden, denn der Kreislauf des Schöpfers war nach Auftreffen des stählernen Rüttlertellers auf die Schädelbasis schwer in Unordnung geraten, und kaum daß man das Unfallopfer unter Bodenlawine und Arbeitsgerät herausgeklaubt hatte, noch während des Transports ins Krankenhaus ganz zum Erliegen gekommen.

Als der Beisetzungsrummel vorbei und das erste Gras über die Sache gewachsen war, habe ich den Nothelfer aus der Untergrundbahn auf sein Grab gepflanzt, wo er schon damals als Mensch nur noch mit Mühe zu erkennen war und eine Saison später ganz zur Unkenntlichkeit verbuschte.


IX.


Ach ja, die Videokassette. Die haben wir uns irgendwann gemeinsam bis zum Aufnahmeschluß angesehen, nachdem wir uns wochenendlich im Bett zurechtgeruckelt hatten. Sonderlich unterhaltsam war das Nachspiel nicht, denn auf dem Band geht die abgefilmte Zerrüttung immer weiter, bis sich der Bulldozer kurz vor Schluß doch noch in Bewegung setzt. Jedenfalls wischt der hemmungslos wabbelnde Nasenflügel des Bedeutenden, der den Bildschirm füllt, beiseite und gibt den Blick auf ein Schattenspiel frei. Weicherorts es abläuft? In der abgedunkelten Lagerhalle wohl kaum. Eher schon meint man, ein Stück mondheller afrikanischer Savanne vor Augen zu haben, in deren Vordergrund lendengeschürzte Kobolde einen noch zuckenden Fleischberg aus der Decke schlagen.

„Empfehlung an deine Namensvettern und träum was Zivilisiertes“, tönt es neben mir aus der seitlichen Drehung und verströmt Buchsbaumduft.

Ich rutsche hinterher. Die Fernsteuerung tut ihre Pflicht. Und wahrhaftig, bei der gehorsamen Implosion des zur Strecke Gebrachten kommt es mir vor, als wäre ich einen Atemzug lang wieder im Bilde gewesen.

 

In: Voralberger Autorenverband (Hg.): »V«. Voralberger Zeitschrift für Literatur Nr. 10 (2002), S. 54-65.