Allein Kunst rettet die Welt (2012)

Ulrich Horstmann gilt als Prophet des Weltuntergangs. Er glaubt, die Phantasie habe das Inferno verhindert – durch Abschreckung. Hat der dritte Weltkrieg deshalb noch nicht begonnen?

Christ&Welt: Herr Horstmann, vor bald 30 Jahren haben Sie prophezeit, dass die Selbstvernichtung der Menschheit kommt – und noch leben wir. Sind Sie eigentlich traurig, kein Häufchen Asche in einer zerstörten Welt zu sein?

Ulrich Horstmann: Zu Staub muss ich werden. Wenn ich dann noch strahle, umso besser. Bevor es so weit ist, bin ich froh, in einer faszinierenden Epoche zwischen apokalyptischen Horizonten zu leben. In ihr wurde sich Homo sapiens erstmals bewusst, dass er sich und seinen Planeten auslöschen kann. Die Vertilgungswut und der Auslöschungstrieb sind etwas Urmenschliches, auch wenn manch einer das nicht wahrhaben will.

C&W: Und was ist mit der Zivilisation? Hat sie nicht das Tier im Menschen gezähmt?

Horstmann: Von wegen. Zivilisation ist der Übergang vom Tier zum Fremdkörper. Erst durch die Zivilisation haben wir uns unserer Umwelt und der göttlichen Schöpfung entfremdet. Das kann man überall da erkennen, wo unsere Entwicklung das Immunsystem der Natur aktiviert. Bei der Atomtechnologie etwa. Letztendlich haben wir uns damit schwer überhoben, wie sich in Fukushima vor einem Jahr gezeigt hat.

C&W: Aber es muss doch auch dem Fremdkörper Mensch möglich sein, mit der Natur, mit der Umwelt in Symbiose zu leben.

Horstmann: Symbiose setzt ein Gleichgewicht voraus. Die Menschheit aber befindet sich im parasitären Stadium, und ich sehe nicht, dass sie es so bald hinter sich lassen wird.

C&W: Sie sind ein unverbesserlicher Pessimist.

Horstmann: Aha. Jedenfalls bin ich zuversichtlich, mir meinen Pessimismus bis zum bitteren Ende erhalten zu können.

C&W: Zynismus jedoch ist Menschenverachtung plus Humor. In Ihrem neuen Buch „Abschreckungskunst“ bezeichnen Sie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki als „Instant-KZs“. Das klingt gefährlich nach der Rhetorik der NPD, die redet gern von „Bombenholocaust“, wenn sie die Bombardierung Dresdens meint.

Horstmann: Mit unbelehrbaren Rechtsradikalen habe ich nichts am Hut. Ich weise nur darauf hin, dass industrialisiertes Töten mit einem Maximum an Opfern und einem Minimum an Personal keine Spezialität der Nationalsozialisten war. Natürlich ist der Holocaust singulär, das waren die US-Atombomben aber auch. Man darf die beiden Ereignisse nicht gegeneinander ausspielen.

C&W: Dennoch, der Begriff ist grenzzynisch.

Horstmann: Ich kann meinen Lesern unliebsame Evidenzen nicht ersparen. Und das nukleare Inferno ruft nun einmal das Bild eines gigantischen Krematoriums auf, das keinen Stacheldraht, keine Baracken, kein Wachpersonal mehr benötigt, sie gleichsam „wegrationalisiert“ hat. Pessimismus heißt, den Menschen zu sehen, wie er ist, nicht, wie er sein soll. Das ist kein Zuckerschlecken.

C&W: Wieso?

Horstmann: Weil man es sich dann in der Heillosigkeit einrichten muss und die Zuflucht zur Betriebsunfall-Metaphorik des Optimisten versperrt ist. Der deutet Menschheitsgeschichte als ständigen Fortschritt mit einigen beklagenswerten Ausreißern. Das ist weltfremd.

C&W: Aber warum pflegen Sie dann in vielen Ihrer Bücher dieses Untergangspathos? Ist das wirklich nötig, um die Dinge besser zu verstehen?

Horstmann: Mimikry. Ich versuche, die Innenperspektive eines Bewusstseins einzunehmen, das zu solchen Paroxysmen der Gewalt fähig ist. Sicher, eine Grenzüberschreitung. Doch es ist wichtig, die menschliche Sehnsucht nach Vernichtung kennenzulernen, sich ihr auszusetzen und sie zu verstehen. „Das Untier“ war in diesem Sinn ein aussätziges Buch. Ich bin oft gefragt worden, ob es sich dabei um Satire oder Philosophie gehandelt hat. Die Antwort war und ist, dass ich an einen Punkt kommen wollte, wo Philosophie umschlägt in Satire und eine Satire nur so strotzt vor philosophischem Mehrwert. Und übrigens sind meine Bücher gar nicht so desperat, immerhin handelt das neue davon, warum wir der Vernichtung bislang entgangen sind.

C&W: Und, was meinen Sie? Warum haben wir sie bislang verhindern
können, wieso sind wir ihr entgangen?

Horstmann: Weil es neben den üblichen Antworten – also der Entspannungspolitik, dem Gleichgewicht der militärischen Drohpotenziale oder einfach aufgrund der Gnade Gottes – noch eine weitere und für meine Begriffe plausiblere Erklärung gibt: Die menschliche Phantasie hat das Schlimmste verhindert.

C&W: Wie das denn?

Horstmann: Seit den Fünfziger- und vor allem Sechzigerjahren haben sich Filmemacher, Künstler und Schriftsteller immer wieder der Frage gestellt: Was wäre, wenn der dritte Weltkrieg kommt? Man kann in dieser Zeit von einem Trommelfeuer an apokalyptischen Phantasien sprechen. Sie alle haben ein im Günther Andersschen Sinne „überschwelliges“, also nicht vorstellbares Szenario wie den Weltuntergang simuliert und damit erfahrbar gemacht.

C&W: Der Weltuntergang als literarisches Motiv ist bekanntlich nicht Neues. Aber wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass Kunst Weltgeschichte schaffen kann?

Horstmann: Wer ist jetzt der Zyniker? Der Glaube, dass Kunst nur Dekoration unseres Daseins ist und noch nie etwas bewegt hat, ist für mich Zeichen einer jämmerlichen ästhetischen Kleingläubigkeit. Phantasie ist eines der wichtigsten Kraftzentren unserer Existenz.

C&W: Nach dem Ersten Weltkrieg gab es, nicht nur in Deutschland, eine Flut von Antikriegsromanen und antimilitaristischen Gedichten. Den Zweiten Weltkrieg haben die pazifistischen Schriftsteller damit allerdings nicht verhindern können.

Horstmann: Ich habe ja auch nicht behauptet, dass die apokalyptische Phantasie auf Knopfdruck siegt. Es war ein Lernprozess, der fast ein Jahrhundert gedauert hat. Die Reaktion der Kunst auf den Ersten Weltkrieg war eine Etappe auf diesem Weg. Darüber hinaus: Die Abschreckungskunst wird niemals den Krieg abschaffen. Es wird auch weiterhin Ohnmachtserfahrungen durch konventionelle und lokale Konflikte geben, wie jüngst durch die Einsätze in Afghanistan oder im Irak.

C&W: In Afghanistan kämpfen auch deutsche Soldaten. Das zumindest
konnte die apokalyptische Phantasie nicht verhindern, sie hat es nicht einmal versucht. Krieg ist für Kunst heute so gut wie kein Thema mehr.

Horstmann: Ja, vielleicht gibt es nach Jahrzehnten der Überanstrengung so etwas wie eine Ermattungsphase, den Sekundenschlaf der Gerechten. Die Abschreckungskunst ist momentan nicht das Korrektiv, das sie in den Achtzigern war. Damals etwa wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sich Deutschland aus einem Auslandseinsatz wie dem in Libyen heraushält. Heute dagegen muss der Außenminister, der einer Intervention der Bundeswehr nicht zustimmt, um seinen Job fürchten. Kaum einer fragt, ob die neue deutsche Welle an Kriegseinsätzen nicht zu früh kommt.

C&W: Dabei gibt es ja weiterhin überschwellige Vernichtungs-szenarien. Den Klimawandel etwa. Auch dazu schweigt die Kunst. Muss Frank Schätzing auch in Zukunft alles alleine machen?

Horstmann: Dann gehen Sie in andere Buchhandlungen, Kinos und Galerien als ich. Man stolpert doch allerorten über Naturfrömmigkeit und Ökophilie. Jenseits des bloß Gutgemeinten wird die ökoapokalyptische Phantasie bald fröhliche Urständ feiern.

C&W: Wäre das nichts für Sie? Sollten Sie da nicht einsteigen?

Horstmann: Schuster, bleib bei deinem Leisten.

C&W: Aber das wäre doch genau Ihr Thema: Ressourcenknappheit führt zu neuen Kriegen, die eskalieren, dann findet einer ein paar alte Atombomben im Keller und es macht bum.

Horstmann: Ich bin ein Silvestermuffel.

C&W: Ich dachte, Sie wollten den großen Knall. Die unbelebte Welt ist die beste aller möglichen Welten, war das nicht Ihr Credo früher?

Horstmann: Ich verrate Ihnen etwas: Nichts bereitet der apokalyptischen Phantasie mehr schlaflose Nächte als ein solches Überschwappen aus der Kunst in die Realität.

Das Interview führte Raoul Löbbert


Ulrich Horstmann, geboren 1949 in Bünde/Westfalen, ist Professor für englische und amerikanische Literatur an der Universität Gießen. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit gibt er sich immer wieder der, wie er es nennt, „literarischen Schwarzarbeit“ hin und schreibt Essays, Theaterstücke und Gedichte. 1983 erschien „Das Untier“, sein bis heute bekanntestes Werk. Horstmann feierte damals in diesem philosophischen Essay die Selbstauslöschung der Menschheit durch Atomwaffen als Endziel der menschlichen Zivilisation – für damalige Verhältnisse eine Provokation. Die Sprache des bekennenden Pessimist und Verehrer Arthur Schopenhauers ist gekennzeichnet von Eleganz, Emphase und satirischer Übertreibung. 1988 wurde Ulrich Horstmann auf Vorschlag von Günter Kunert mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Danach wurde es ruhig um ihn. Sein neues Buch „Abschreckungskunst. Zu Ehrenrettung der apokalyptischen Phantasie“ ist im Wilhelm Fink Verlag, München, erschienen. ral

In: Christ & Welt Ausgabe 12/2012