The Marvell Larkin Marvel oder die Geburt der Poesie aus dem Sprachfehler (2001)

Daß Philip Larkin nach übereinstimmender Auskunft seiner Biographen in der ersten Lebenshälfte ein schwerer Stotterer war, ginge niemanden etwas an, wenn seine literarische Karriere und sein Arbeitsstil nicht genau dieselbe Anomalie aufwiesen. Stotternd nämlich betritt er die Bühne, nimmt mit Jill (1946) und A Girl in Winter (1947) zwei Anläufe, um sich wie sein Freund Kingsley Amis als Romancier zu etablieren, verheddert sich dann aber hoffnungslos beim dritten Erzählversuch. Auch in der Lyrik ist der Zungenschlag zunächst der eines anderen. Erst schreibt er wie Yeats, danach hört man Thomas Hardy, bevor sich das fast antipoetische ‚Larkinese‘ etabliert, das ihm eine in der modernen Lyrik nahezu beispiellose Resonanz und Breitenwirkung sichert.

Zum ersten Mal ertönt es 1955 in dem Band The Less Deceived, den er im Kleinverlag der Marvell Press herausbringt. Aber damit ist das ebenso belastende wie kreative Stottern keineswegs ausgestanden, wie jeder bezeugen kann, der im Archives Reading Room der Universitätsbibliothek zu Hull auch nur einen flüchtigen Blick in die notebooks, die Arbeitskladden Larkins, geworfen hat. Bis zum Ende des lyrischen Schaffens müssen die besten Gedichte in zahllosen Anläufen, in immer von vorn beginnenden Abschriften erkämpft und also ‚erstottert‘ werden. Welche Unbeirrbarkeit, Disziplin und ‚Frustrationstoleranz‘ hinter dieser Kompositionsweise gesteckt hat, kann man sich unschwer ausmalen, besonders wenn man bedenkt, daß Larkin habituell immer erst in den Abendstunden und nach Dienstschluß literarisch arbeitete.

Angesichts dieses Befundes scheint es mir der Mühe wert, das Prinzip des Stotterns, also des doppelten und dreifachen Ansetzens, auch einmal in der Larkin-Interpretation durchzuspielen. Ich habe dazu sechs Gedichte aus dem genannten Band ausgewählt und nähere mich ihnen als Leser, als Literaturwissenschaftler, der die einschlägige Sekundärliteratur zur Kenntnis genommen hat und – als Nachdichter. Ob dieses ‚Zusammenstottern‘ Sinn macht, mehr Sinn vielleicht als die monologische Eloquenz der Berufsexegeten, die Larkin nicht nur in „Posterity“ satirisch behaßt hat, stelle ich mit dem folgenden Probelauf zur Diskussion.


„Lines on a Young Lady’s Photograph Album“

Larkin hat dieses Gedicht an den Anfang des Bandes The Less Deceived gestellt; er gibt damit gleichsam seine poetische Visitenkarte ab, demonstriert den künstlerischen Ist-Stand. Und dem, was der damals Einunddreißigjährige konnte, schreiben die Interpreten in immer neuen Deutungsversuchen bis heute hinterher.

Das liegt unter anderem an dem Wechselspiel, nein, der Durchdringung der Tonlagen eines pathetischen Lamento über die unwiederbringliche Vergangenheit und einer hochironischen Selbstinszenierung, in der sich der Sprecher als lüsterner Voyeur und ‚dirty old man‘ präsentiert – oder mit Larkins eigenen Worten: „[The poem] won’t make up its mind whether it’s going to be serious or not“ (zit. nach Motion 1993: 233). Dieses Eingeständnis der Doppelzüngigkeit findet sich in einem Brief an Winifred Arnott, Praktikantin an der Universitätsbibliothek in Belfast, nach der er die ‚young lady‘ des Gedichts, übrigens gleichfalls stereotypisierend, modellierte. Die sich einmischende obszöne Drittstimme hat er ihr verschwiegen.

Dabei ist dieser anzügliche sexuelle Subtext gerade zu Beginn, wie Steve Clark (1997: 115) gezeigt hat, durch ein paar Auslassungen leicht an die Oberfläche zu heben: „At last you yielded up the **** which, / Once open, sent me distracted. All your / **** glossy on the thick black ****“. Und einmal eingeweiht, liest ihn der Muttersprachler über die „(pussy)cat“ der siebten und das pubertierende Sich-Bepelzen der achten Zeile bis zum Schluß mit, wo das „you lie“ die verführerische Pose und das Unwahre und Lügnerische des lieb- und leblosen Fotoabzugs gleichzeitig zur Sprache bringt.

Obwohl das Begehren also Stimmrecht besitzt, hat es doch nicht das letzte Wort, denn der Sprecher ist offenbar willens, sich so in der zweidimensionalen Ersatzwelt einzurichten, wie sich der reale Larkin wenig später mit der Übersiedlung Winifreds nach London und dann mit ihrer Verlobung und Heirat abgefunden hat. Das Album wird gewissermaßen zum Asyl, die Fotographie, der zu Beginn der vierten Strophe noch der Status der Unkunst zugewiesen wird, doch das mitschwingende „as no (other) art is“ zum Inbegriff ästhetischer Spurensicherung und Erneuerungsfähigkeit.

Der Konflikt zwischen Gegenwart und Vergangenheit – man vergleiche den Titel, der einen Gegenstand des 20. Jahrhunderts in eine typische Gedichtüberschrift des 18. einbaut – wird damit keineswegs zum Verschwinden gebracht, die Kollision zwischen dem prallen Leben und seinen mehr oder weniger kunstvollen Nachbildern nicht entschärft. Wohl aber läßt die Tragikomik eine entlastende Atempause zu, ein temporäres Sichanfreunden mit dem Beraubtwerden, dem die Angesprochene als obskures Objekt der Begierde ebenso ausgeliefert bleibt wie ihr wenig bilderstürmerischer Möchtegern-Verführer.


Auf das Photoalbum einer jungen Dame

Endlich herausgerückt, hab ich es aufgeschlagen,
dein Album – und war völlig außer mir.
All deine Lebensalter glänzen matt auf dem Papier!
Zuviel Konfekt, zuviele Schokoladenlagen:
Das Bildmenü verklumpt mir schon den Magen.

Doch saugt das Auge weiter gierig Posen ein –
mit Pferdeschwanz und da die Katze fest im Griff,
dort selbst bepelzt und hier mit Absolventenpfiff,
von Rosenbogen überwölbt und im Verein
mit vollen Blüten, mannhaft der Hut mit feschem Kniff

(leicht irritierend ist es, dies Erscheinungsbild) –
von allen Seiten fühl ich mich bedrängt
und nicht zuletzt von schrägen Typen eingeengt,
die dich umstreunten früher, gern gewillt –
doch ohne deine Klasse mit Verlaub, und immer nur so beigemengt.

Photographie, ach ja, wie keine Kunst
wahrheitsgetreu und ohne alle Illusion!
Die trüben Tage und das aufgesetzte Lächeln – schon
ist’s konserviert. Die Makel bleiben und kein Dunst
verhüllt die Wäscheleinen oder Halls Auffrischaktion.

Vielmehr sieht man der Katze ihren Widerwillen an,
und auch das Doppelkinn bleibt, was es war.
Doch stellt der Abzug dich in großer Anmut dar
und schlägt uns mit der Einsicht in den Bann:
hier wird man pure Empirie gewahr.

Sie ist real, dingfest, was sie umgibt.
Oder macht das nur die Vergangenheit?
Martern mich Blumen, Autos, Parks nur, weil die Zeit

sie immer tiefer ins Vorüber schiebt?
Daß du veraltet aussiehst, tut mir leid.

Ja, sicher; nur letztendlich lamentieren wir
doch auch, weil dieser Ausschluß uns den Freiraum schafft,
uns zu beklagen. Was war nimmt nicht in Beugehaft,
hat keine Falschaussage im Visier
zum Grund des Grämens, heulten wir mit aller Kraft

auch in den Abgrund zwischen Auge und Papier.
So trauere ich dir (ohne Folgen) hinterher
auf deinem Rad am Zaun; so bin ich sehr
gespannt, ob du vermißt, was ich als Souvenir
mitgehen ließ: ein Bild von dir beim Bad im Meer


„Next, Please“

Das Gedicht thematisiert die Hoffnung auf bessere Zeiten, „[the] bad habits of expectancy“, ohne die wir nicht auszukommen scheinen. Dazu komponiert es die umgangssprachliche Wendung „When my ship comes in“ zu einer komplexen Bilderfolge aus, wobei die in der dritten und vierten Strophe zu beobachtende Liebe zum Detail den Eifer, mit dem wir unsere Tagträume ausschmücken und ausmalen, zugleich abspiegelt und parodiert.

Obwohl die wiederkehrenden Kurzzeilen das ebenso regelmäßige Zurechtgestutztwerden hochgespannter Erwartungen vor Augen und Ohren führen und der einzige unbeirrt auf uns zuhaltende Segler das Totenschiff ist, wollen wir in unserer protheischen Zukunftsorientierung den existentiellen Bluff, auf den die fünfte Zeile anspielt, nicht wahrhaben. Lernunfähig vertrauen wir auf das nächste Mal, die nächste Chance, ein Wiederholungszwang, der Larkin schon in jungen Jahren Angst machte, und zwar nicht deshalb, weil er aufgeklärter gewesen wäre als seine Altersgenossen, sondern weil der Satz „Next, please“ für den starken Stotterer immer eine hochnotpeinliche Situation ankündigte.


Der nächste, bitte.

Weil uns die Zukunft schwer verlockt,
hat’s uns die Hoffnung eingebrockt.
Etwas steht immer vor der Tür,
schon morgen sagen wir

und sehn vom Kliff in Flottenformation
Versprechen näherkommen, deutlich schon,
doch klitzeklein, weil sie die Zeit nicht drängt,
so glatt verschenkt!

Am Ende nur Enttäuschung, kahle Blütenstiele.
Wenngleich den schmucken Seglern unterm Kiele
viel Wasser bleibt, das Tauwerk schon zum Greifen nah,
macht man sich rar.
Kein Anker fällt. Der Bug mit goldner Frauentitte
schwenkt ab, beflaggt geht’s durch die Mitte.
Kaum da, schwimmt es im War-einmal.
Doch wie fatal,

wir glauben, noch das Allerletzte landet an,
was dem gebührt, der warten kann,
an Lohn und durch Geduld verdienten Schätzen.
Das geht in Fetzen:

Nur ein Schiff unter schwarzen Segeln wendet nicht,
hält Kurs auf uns, im Schlepp Verzicht,
ein großes Schweigen ohne Möwenschrei,
Kielwasser Blei.


„Church Going“

Beim ersten Lesen könnte man meinen, in den drei Teilen des Gedichts kämen verschiedene Sprecher zu Wort, so deutlich differieren sie im Ton. Die ersten beiden Strophen dominiert der abgebrühte Tourist, der Inventur macht, sich am Pult einen unehrerbietigen Scherz erlaubt, mit irischem ‚Falschgeld‘ bezahlt und schon wieder draußen vor der Tür stände, hätte er sich nicht im letzten Moment in die zweite Persona verwandelt. Sie ist entschieden phantasiebegabter und malt sich die ruinöse Zukunft der Kirche, d.h. dieses Gebäudes wie auch der Institution, in mehreren Einzelbildern aus, bei denen auffällt, daß sie nichts Futuristisches haben, sondern das Mittelalter wiederbeleben oder zeitgenössische Verhaltensweisen wie die des Antiquitäten-Freaks fortschreiben. Die Selbstcharakterisierung der dritten Stimme als „bored, uninformed, knowing the ghostly silt dispersed“ scheint die Eingangsfigur zurückzurufen; sie entpuppt sich aber als philosophisch-meditative Instanz, die auf den nicht wegzudekretierenden Sinnhunger hinter den historisch wechselnden religiösen Kulissen abhebt.

Die genannten Metamorphosen, die sich auch dadurch reibungsloser vollziehen, daß z.B. der dritte Sprecher in der unbeholfen pietätvollen Geste des Sich-die-Fahrradklammern-Abziehens gleichsam schon vorkommt und der Anfangszynismus selbst im letzten Teil – „I’ve no idea what this accoutred frowsty barn is worth“ – noch einen Auftritt hat, sind allerdings keine willkürlichen Umschläge im Kopf eines multiplen Ich. Sie folgen vielmehr der Logik des zunehmenden Ernstes und der Verinnerlichung, die zugleich eine der Vernatürlichung ist.

Paradoxerweise zeigt dabei gerade die verfallende Kirche den Weg, weil sie ihre architektonische Abkapselung nicht mehr aufrechterhalten kann und die Außenwelt in Gestalt von Gras und Gesträuch wieder zulassen muß. Erst als sie mit Ausnahme der Fundamente vom Erdboden verschwunden ist, offenbart sich im ordnenden Grundriß und im sie umgebenden Friedhof eine letzte Wahrheit, die sie und all die anderen rivalisierenden Formen des Gottesdienstes überdauern wird.
Ihr ist der dritte Sprecher auf der Spur, und auch er findet sie in der Natur – des Menschen. Es gibt „compulsions“, die sich nicht ad acta legen lassen wie abgelebte Religionen, das zwanghafte Verlangen zum Beispiel, sein Dasein vor Nutzlosigkeit und Absurdität in Schutz zu nehmen und mit seiner Endlichkeit – „marriage, and birth, and death“ – zu Rande zu kommen. Ein Wesen, das sich als todesverfallen erkennt – und im „gravitating“ der drittletzten Zeile steckt „grave“ – braucht nicht nur „gravitas“ im Sinne des Gegengewichts der (Menschen-)Würde, es braucht auch Trost. Und deshalb sind mehr oder weniger institutionalisierte Formen der Andacht unausrottbar, geht, so der doppeldeutige Titel, der Kirchgang weiter, auch wenn das Christentum als eine seiner unzähligen Ritualisierungen verschwindet.


Kirchgang

Nachdem mir klar ist, hier spielt sich nichts ab,
trete ich ein; mit dumpfem Anschlag schließt die Tür.
Noch eine Kirche: Sisal, Sitze, Quader grob
und kleine Bücher, auch wuchern Blumen, die man für
den Sonntag abgeschnitten hat, ins Welke; Messinggerät
im heiligen Hinterrücks, die kleine Orgel blankpoliert
und eine muffig-angespannte, aufdringliche Stille,
die sich Gott weiß wie lange schon zusammenbraut. In unbeholfener Pietät
zieh ich, hutlos, die Fahrradklammern von der Leibeshülle,

geh weiter und umfahr den Taufstein mit der Hand.
Von hier gesehen wirkt das Dach so gut wie neu –
gereinigt, restauriert? Das bleibt dem Fremden unbekannt.
Über der barschen Losung auf dem Pulte scheu
ich mich nicht, das Großgedruckte ‚An dieser Stelle endet‘ auszusprechen,
wenngleich es lauter hallt als vorgesehen.

Das Echo kichert kurz. Zurück am Ausgangspunkt
das Buch signiert, dem Zwang zum frommen Blechen
mit einem Sixpence, irisch, nachgegeben. War nichts, womit Erinnerung prunkt.

Doch hab ich trotzdem angehalten; passiert mir oft
und mehr als oft bin ich so ratlos wie auch hier,
und frag mich, was soll sich schon zeigen unverhofft
und was wird werden, wenn die letzte Seele dies Geviert
verlassen hat. Worin verwandelt sich’s, wenn wir nur noch
ganz wenige Kathedralen für Ausstellungszwecke offenhalten –
das Pergament, die Pyxis und Patene unter Glas?
Sind sie für Schafe Ställe erst und später dann ein Regenloch?
Als Unheilshorte allenfalls besetzt mit unserem Haß?

Oder kommen bei Nachteinbruch zwielichtige Frauen,
legen die Kinderhände auf den ganz besonderen Stein
und sammeln Kräutlein gegen Krebs oder erwarten vor dem Tauen
die avisierte Spukgestalt, das wandelnde Gebein?
Die eine oder andere Kraft wird sicher weiterwirken
aufs Geratewohl in Spielen, Rätselraten und Geraun.
Doch Aberglaube stirbt den Religionen hinterdrein,
was überdauert Heiden in den heiligen Bezirken?
Gras, Brombeer, Pfeiler, Himmel, krautumrankter Pflasterstein,

während die Form des Ganzen immer weniger greifbar ist,
der Zweck im Dubiosen sich verliert. Ich hätt ihn gern
vor Augen diesen aller-, allerletzten, der, obzwar Statist,
die Bühne noch erkennt. Einer von jenen Herrn,
die stochern, sich Notizen machen, einen Lettner Lettner nennen?
Oder ein Sammler, hingerissen, so ein Pietist
des Ruinösen? Ein Christkindskopf, dem noch bei einem Hauch

Von Myrrhe, Orgelklang und Weihnachtsfest die Tränen rännen?
Oder mein Ebenbild, das also auch,
gelangweilt und nicht Fachmann, eingesehen hat,
wie alles Sediment längst geisterhaft zerstob, doch angezogen wird
quer durch Gestrüpp, weil sich als Destillat
in diesem Kreuz im Boden lange unbeirrt
gehalten hat, was heute nur noch abgetrennt und abgeschieden
zu finden ist – Ehe, Geburt, der Abgang auf dem letzten Blatt –
und im Gehäuse wie nach Maß geborgen war. Zwar weiß ich nicht
was dieser miefige Geräteschuppen denn hienieden
noch bringen soll. Doch halt ich schweigend kein Gericht.

Dies ist ein ernstes Haus auf ernstem Grund,
in dessen gut durchmischter Luft sich alle unsere Zwänge treffen
und dann in Schicksalskleider schlüpfen nach Befund.
Soviel zumindest bleibt auch Enkelsenkeln, Urgroßneffen,
denn dieser Hunger wird sich immer wieder rühren,
ganz plötzlich ist das Dasein ernstgemeint,
und seine Schwerkraft zieht uns hin zu dieser Erde,
in der die Weisheitssucher, hieß es, Antwort spüren,
und sei es nur, weil sie ringsum von Toten stets erneuert werde.


„Toads“

Noch heute kann man sie neben dem schweren schwarzen Brillengestell in einer Vitrine des Archives Reading Room der Universität Hull besichtigen, die überlebensgroße grüne Porzellankröte, die auf Larkins Schreibtisch stand und eigentlich ein Frosch ist. Ein für ihn alltäglicher Anblick brachte ihn also auf diese frappante Verkörperung lebenslanger Fron, und als er in einem Interview einmal flapsig verlauten ließ, „sheer genius“ sei dafür verantwortlich gewesen, kann das Corpus delicti sich nicht in Sichtweite befunden haben.

In diesem Text, von der Kritik als „comic poem of discontented resignation“ (Swarbrick 1995: 65) gehandelt, hat sich „the brute“, das Vieh, schon verdoppelt und malträtiert den Sprecher via Sechs-Tage-Woche von außen und als Über-Ich, das den Wunschkomplex ‚game-girl-money‘ unerfüllbar macht, von innen. Wie in „Poetry of Departures“ kann sich allerdings auch hier eine echte Alternative nicht ausbilden, weil ihre Repräsentanten von vorneherein zu Zielschreiben der Karikatur, Satire oder spöttischer Deklassierung werden. Der Leser ist somit eingeladen, eine argumentative Tretmühle zu besichtigen, die die Routine und Endlosschleifen der Arbeitswelt getreulich reproduziert.


Kröten

Die Kröte Arbeit – warum ausgerechnet die
zum Huckauf machen?
Kann ich denn meinem Grips nicht Zinken ziehen,
zack, wär sie ausgestochen?

Sechs Wochentage saut sie voll
mit ihrem widerlichen Gift –
nur weil man zahlungsfähig bleiben will!
Betrug ist das, und kein Geschäft.

Wie viele schlagen sich verschlagen durch:
Starredner beispielsweise, Stammler,
und Stricher, Stümper, Strolche –
und kommen alle rund, pekuniär.

Wie vielen sind Bruchbuden angenehm
– Eimer aus Blech als Öfen –,
wo Ölsardinen hoch in Ansehen stehen,
und Müllschlucker ganz munter hoffen.

Und ihre Blagen laufen barfuß rum,
und ihre Weiber sind unsäglich
und klapperdürr nach Windhundart. Sei’s drum,
Verhungern ist auch dort unmöglich.

Ach, brächte ich die Traute auf
und schrie: Steckt euch die Rente in den Arsch!
Doch weiß ich leider zu genau,
daß das ein Wunschbild bleibt und angemaßt:

Denn etwas, was der Kröte nahekommt,
hockt auch in mir,
mit kalten Schenkeln wie aus Schnee geformt
und wie das Unglück feist und schwer,

und läßt’s nicht zu,
daß ich in einem Aufwasch
zusammenschwätze Geld und Ruhm
und eine Frau für Bett und Tisch.

Hochgeistige Verkörperung der einen in der anderen
behaupt ich nicht,
wohl aber, daß dort keine weiterwandern
will, wo beide hocken als Gezücht.


„Deceptions“

Wie „At Grass“ hat auch dieses Gedicht eine Vorlage, einen pre-text, auf den es reagiert. Der viktorianische Soziologe Henry Mayhew veröffentlichte den vierten Band seiner Unterschichtstudie 1862 und objektivierte die auskunftswillige Prostituierte darin zum repräsentativen Fall. Larkin gibt der Frau ihre Persönlichkeit und ihrer Lebensgeschichte die individuelle Tragik zurück und betreibt insofern Wiedergutmachung, allerdings mit dem Eingeständnis, daß sie über eine nachträgliche, unzureichende und hilflose Geste nicht hinausgelangt: „I would not dare console you if I could.“

Trotz der einfühlsamen Präzision, mit der der Autor die Verzweiflung der jungen Frau nachzeichnet – „suffering is exact“ –, hat er sich von der Kritik den Vorwurf des Sexismus und sadistischer Abgestumpftheit gefallen lassen müssen. Die Interpretation von „Deceptions“ als „an apology for rape“ (Bristow) beruft sich dabei auf den Perspektivenwechsel am Schluß, der den Vergewaltiger in Schutz nehme. Daß Larkin auch seinem Geschlechtsgenossen zwei Zeilen der Empathie (gegenüber fünfzehn für das Opfer) zubilligt, trifft zu. Allerdings wird der Täter dadurch keineswegs freigesprochen. Im Gegenteil, das Gedicht beschönigt weder die Brutalität der Notzucht noch die Tatsache, daß der Täuscher einem Selbstbetrug erliegt, sein Verbrechen sich also nicht auszahlt.

Die Behauptung, die desillusionierte Frau erscheine gegenüber dem weiterhin in seiner Lustphantasie gefangenen Mann als Gewinnerin, ihr werde also vom Text gleichsam zum zweiten Mal Gewalt angetan, ist so nicht haltbar. Die Formulierung in der drittletzten Zeile spielt nämlich auf die Äußerung Ophelias gegenüber Hamlet an – „I was the more deceived“ – und adelt auf diese Weise ein namenloses Freudenmädchen, dem freilich solche (hoch-) literarische Kompensation zu Lebzeiten nichts bedeutet hätte: „you would hardly care.“

Larkin dagegen setzt auf Anteilnahme, auch wenn sie, um fast ein Jahrhundert verspätet, zur Unzeit kommt, und stößt in diesem Zusammenhang auf das Schlüsselkonzept der produktiven Ent-Täuschung, auf ein absehbares Nichterreichen, das aber den Aufbruchsversuch um so sinnreicher und wertvoller macht. Deshalb wird die ursprüngliche Überschrift des Gedichts „The Less Deceived“ zum Titel des Bandes, mit dem er sich 1955 erstmals unüberhörbar zu Wort meldet und englische Literaturgeschichte schreibt.


Täuschungen

‚Natürlich bin ich betäubt worden, und zwar derart, daß ich erst am nächsten Morgen wieder zu mir kam. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich, daß ich geschändet war, und tagelang fand ich keinen Trost und flehte wie ein Kind, man solle mich entweder töten oder zu meiner Tante zurückschicken.‘
Mayhew, London Labour and the London Poor

Sogar aus diesem Abstand schmecke ich den Gram,
den er dich schlucken ließ, und seine scharfe Bitternis.
Flüchtige Sonnenmuster; Räderknarren kam
vom Pflaster, wo das Brautschau-London
in Gegenrichtung sich verneigt. Und dann das hohe Licht,
beschwichtigungslos, das nichts von
Heilung wissen will, sondern den Schimpf, die Schande
aus ihren Unterschlüpfen treibt. Die Zeit fiel nicht mehr ins Gewicht,
dein Geist, ein offenes Messerfach – wozu war er imstande?

Slums, Jahre haben dich begraben. Mein Trost verschalt,
ich mut‘ ihn dir nicht zu. Was schließlich ist zu sagen;
daß Leiden klar umrissen ist, doch die Gewalt
der Lust das Auge leicht zum Absehn bringt?
Denn es wär von dir abgeprallt,
daß du im Bett mit weniger Lug und Trug geschlagen
warst als er, der atemlos die Stufen nimmt, und dergestalt
in die verlassene Kammer der Erfüllung dringt.


„At Grass“

Auslöser dieses Gedichts war ein Kurzfilm über das Rennpferd Brown Jack, den Larkin bei einem Kinobesuch im Vorprogramm zu sehen bekam und der bis in den Zoom der ersten, die Überblendung der zweiten und den Schwenk der dritten Strophe hinein mediale Spuren hinterlassen hat. Die Veröffentlichung der Arbeitsblätter in der Zeitschrift Phoenix im Jahr 1973 verdeutlicht darüber hinaus, wie bewußt moralische Sinnzuweisungen und die Allegorisierung der Pferde zugunsten der Perspektive des ‚kalten Kameraauges‘ zurückgedrängt werden.

Der in Zeile acht auftauchende Schlüsselbegriff lautet „distances“. Die Tiere halten Abstand zum Betrachter und zu ihrer ruhmvollen Vergangenheit. Aus der Fremdheit des menschlichen Rummels sind sie in das ewige Jetzt instinktsicherer Animalität zurückgekehrt und uns damit ihrerseits so fremd geworden, daß sie sich – wie eingangs beschrieben – fast in der natürlichen Umgebung verlieren. Kommunikation mit diesem wieder freigestellten Anderen findet nicht statt; das Heraufbeschwören ihrer ‚großen Zeit‘ ist ein Monolog über ihre Köpfe hinweg, die sie in der vorletzten Strophe keineswegs zum Zeichen der Mißbilligung schütteln, sondern um die Bremsen zu verscheuchen.

Diesen Doppelschritt vom Wiedererkennen einer typisch menschlichen Geste zum Eingeständnis, daß sie für das Tier nichts bedeutet, legt uns auch das Gedicht als ganzes nahe. Es warnt vor Anthropomorphisierung, also Vermenschlichung oder gar Verniedlichung, der Kreatur und beneidet sie um die Wonnen der Geschichtslosigkeit und Anonymität. Allerdings wird auch das Aber anschaulich. Der animalische Freiraum ist offensichtlich begrenzt und umzäunt, und die Willfährigkeit, mit der sich die beiden Veteranen jeden Abend und fraglos auch am Ende ihrer Tage abführen lassen, will uns ebensowenig schmecken wie ihre Lieblingsspeise.


Auf der Koppel

Aus ihrem Unterstand von kalten Schatten
Löst sie das bloße Auge kaum,
bis ihnen Wind durch Schwanz und Mähnen krallt.
Jetzt trottet eins. Verfolgt von matten
Genossenaugen rupft es Gras, bevor es hinterm Zaun
wieder in Anonymität versinkt und Vorgestalt.

Doch sind es gerade fünfzehn Jahre,
da galten sie als fabelhaft.
Gut zwanzig Rennen reichten: blasse Nachmittage,
Pokale, Wetten, Siegfanfare,
die Namen eingraviert zur Meisterschaft,
die Hauptsaison bestritten ohne Niederlage.

Seidentrikots am Start: über der Menge
sind Nummern, Sonnenschirme aufgespannt,
und vor dem Eingang Herden leerer Wagen
und Hitze, Müll; dann steigt aus dem Gedränge
der lange Schrei, den keine Etikette bannt
und den noch Zeitungsjungen durch die Straßen tragen.

Ob sie Erinnerungen ganz wie Bremsen quälen?
Sie schütteln sich die Köpfe aus. In Schatten
schwappt schon Dämmerung. Es ist nicht so,
daß ihnen Startmaschinen und der Rummel fehlen.
Die waren lästig. Besser sind die satten
Wiesen. Und besser das Inkognito,

obwohl die Namen immer noch verzeichnet sind.
Was sonst als Freude spornt sie zum Galopp,
den kein Experte glasbewehrt beäugt,
der jeder Stoppuhr mühelos entrinnt:
Und nur der Stallknecht legt salopp
das Zaumzeug um, dem man sich abends beugt.


Zitierte Literatur:

Bristow, Joseph. „The Obscurity of Philip Larkin“. Critical Inquiry 21 (1994):
156-181.
Clark, Steve. „‚Get Out as Early as You Can‘: Larkin’s Sexual Politics“. Philip
Larkin, ed. Stephen Regan (a.a.O.): 94-134.
Motion, Andrew. Philip Larkin.  A Writer’s Life. London: Faber & Faber 1993.
Swarbrick, Andrew. Out of Reach. The Poetry of Philip Larkin. London: Macmillan
1995.

Veröffentlicht in: Critical Interfaces. Trier 2001.