Schreibweise. Warum Schriftsteller mehr von der Literatur verstehen als ihre akademischen Bevormunder. (2014)
1. Rückmeldung
Den akademischen Umgangsformen mit Literatur wird niemand den Status einer experimentellen Wissenschaft zuweisen, und doch gibt es zwei schlichte Gedankenexperimente, die in wünschenswerter Weise zur Klärung von Verhältnissen beitragen, die jeder Familienrichter, ohne mit der Wimper zu zucken, als zerrüttet bezeichnen würde. Man stelle sich also vor, durch einen ebenso flächendeckenden wie unumkehrbaren Verflüchtigungsprozeß löste sich vor unseren Augen jede Zeile auf, die Shakespeare je zu Papier gebracht hat, ohne daß die Furie des Verschwindens aber auf das Begleitmaterial überspränge. Während die Übersetzungen mit dem Original verblaßten, blieben die kritischen Apparate, die Exegesen und Paraphrasen bis aufs i-Tüpfelchen erhalten, und wer die geleerten Editionen durchblätterte, stieße überall noch auf den Bodensatz der Erudition mit von Seite zu Seite wechselnden Pegelständen oder daneben auf die Höhenflüge der Interpreten, denen ein mörderischer Schrothagel selbst noch das durch Flüchtigkeit unausgewiesene Halbzeilenzitat herausgeschossen hätte. Wäre es unter diesen Umständen möglich, einen Midsummer Night’s Dream, einen King Lear oder Tempest Zeile für Zeile, Wortspiel um Wortspiel, Dialog um Dialog zu rekonstruieren und aus den Gipsabdrücken der Kommentare die lebendige Physiognomie der Dramen wiedererstehen zu lassen? Ausgeschlossen. Kein Philologenfleiß, kein Computerprogramm, ja nicht einmal der genidentisch ins 21. Jahrhundert geklonte „only begetter“ brächten das zustande.
Soviel zu den postmodernen Versuchen, das Gefälle zwischen Primär- und Sekundärliteratur einzuebnen, die Singularität und Unwiederholbarkeit des Autors zu leugnen sowie zu ‚Texten‘ verflachte sprachliche Kunstwerke aus den Interferenzen und Fluktuationen einer selbstbewegten écriture hervorgehen zu lassen wie Kaulquappen aus dem Schlamm. Die genannten Anstrengungen, die nicht selten mit dem Elan von Erweckungspredigern und ihrem wiedertäuferischen Hang zur Gehirnwäsche unternommen wurden, zeugen von einem Realitätsverlust und einer Entfremdung zwischen künstlerischer Praxis und ihrer hier bis zur Verunglimpfung pervertierten Rezeption, die in der neueren Kulturgeschichte ihresgleichen sucht. Ein zweites Gedankenexperiment macht das evident. Wer heute etwa als Studienanfänger die Einführungen und Reader zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung aus den Bibliotheksregalen zieht, nein, wuchtet, bekommt es mit der Angst zu tun. Ohne die Rückendeckung eines Fitness-Studios sind bei der Handhabung dieser vier-, fünf-, sechshundertseitigen Scharteken Verspannungen und Muskelkater vorprogrammiert, von den Risiken für die geistige Gesundheit ganz zu schweigen. Denn es ist doch offensichtlich so, daß man zur Meisterung des konzeptuellen und paradigmatischen Rüstzeugs für den Umgang mit dem Forschungsgegenstand die sprichwörtlichen sieben Leben einer Katze benötigt und das achte eigene dazu verwenden muß, postgraduiert mit den Theorieentwicklungen schrittzuhalten. Nach Auskunft von Fachvertretern ist an eine thematisch darüber hinausgehende Lektüre ebensowenig zu denken, wie der Adept von Jeremy Taylors Holy Dying weiland über den rastlosen Vorbereitungen auf ein seliges Ende noch zum prosaischen Leben kam. Die cutting edge sorgt schon dafür, daß die Nabelschnur zu dem, was vordem Belletristik oder Dichtung hieß, zerschnitten wird und Modelle und Diskurse den Horizont begrenzen, der sich kaum mehr in Geschichten und Phantasiewelten hinein öffnen kann. Deshalb hat das Gedankenspiel, das nun auch die Metatexte zum Verschwinden bringt, ganz andere Konsequenzen als der evaporierte Klassiker. Die Ausblendung Shakespeares wäre eine Tragödie, das Sich-in-Luft-Auflösen der Theoriebarrieren, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Welt gesetzt hat, das genaue Gegenteil. Welcher Leichtsinn, nach Büchern zu greifen, die nicht mehr vom cultural materialism, der Dekonstruktion, dem Femininismus, der queer theory oder dem ecocriticsm freigeschaltet sind! Welche Erholung, naiv und guten Gewissens zu schmökern, sich jargonfrei und ohne die Schlüssel- oder Reizvokabeln, die einen schulgerecht verorten, über das Gelesene zu unterhalten und zu verständigen! Welcher Gewinn, wieder den Hautkontakt zu spüren, mit allen Sinnen zu reagieren, statt sich den Genuß zu verbieten; welche Lust, einen roten Kopf zu bekommen und dem Zerebralkrüppel, der man war, die häretischen Leviten zu lesen!
Der Realitätssinn, den sich die Theoriefraktion wegkonditioniert hat, weil er ihre selbstverliebten Kreise stört, hat die Ausrufezeichen hinter die letzten drei Sätze gesetzt, die sich damit als Utopien und Wunschbilder zu erkennen geben. Nicht von dieser Welt, zugestanden, oder doch nur als regulative Ideen, als Wegweiser. Denn es ist nicht genug, da, wo es nur noch mit dem Kopf gegen die Wand geht, ein Sackgassenschild aufzustellen, wie ich es vor gut einem Jahrzehnt mit Ausgewiesene Experten. Kunstfeindschaft in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts versucht habe. Man muß nach dem Zurücksetzen auch einen Vorschlag machen, wie und in welcher Richtung es weitergehen könnte. Dieser Aufgabe stellt sich der vorliegende ‚Einwurf’, wobei naturgemäß keine (meta-)theoretische Alternative zu erwarten ist, denn das hieße den Teufel der Kopflastigkeit und Überkomplexität mit dem Beelzebub neuer Verabstrahierungen auszutreiben. Wie die vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben, vermehren sich Theoriemodelle und Paradigmen unter günstigen Rahmenbedingungen oder bei „gelehrter Stallfütterung“, wie Lichtenberg das genannt hätte, wie die Karnickel. Noch mehr große Würfe aber wollen wir uns nicht an den Hals laden. Was vonnöten wäre, ist nicht die weitere Multiplikation von aus immer größerer Distanz und mit zunehmender Fluchtgeschwindigkeit angefertigten Fehlfarbenaufnahmen und Zerrbildern, sondern die Wiedergewinnung der Innenperspektive und einer möglichst unverfälschten Primärerfahrung.
Wie kommt man aus dem Orbit, von den Höhenflügen der Theorie auf den festen Boden zurück, aus der verkapselten Enge und Engstirnigkeit des einen oder anderen Paradigmas auf die weiten Felder, in die grandiosen Landschaften und zauberhaften Gefilde der Kunst? Die Lösung ist denkbar einfach. Man muß sich an diejenigen halten, die sich hier auskennen, an die Ureinwohner, die Künstler also, und sich ihrer Führung anvertrauen. Deshalb sollte beispielsweise der postcolonial criticism zuerst einmal vor seiner eigenen Tür kehren, denn wie seine Theorie-Rivalen ist er selbst ein Conquistador und Kolonisator, der die Eingeborenen der Literatur, ihre Autoren, enteignet und bevormundet hat und sie ihrer Hoheits- und Selbstbestimmungsrechte beraubt. Er ist ein Lautsprecher und Rechthaber, der die Selbstverständlichkeit, mit der er sich einmischt und seinen unfreiwilligen Mündeln über den Mund fährt, mit anderen ‚Diskursführern‘ teilt. Aber die Zeit dieser Monologe neigt sich dem Ende zu. Sie sind, weil dogmenabhängig und vorhersehbar, sterbenslangweilig geworden, und auch der Ausweg in die mehr oder weniger zügellose Theorieproliferation, die dickfällige Vermehrung der Kaninchenställe also, dürfte nicht mehr lange als ernsthafte Option gelten. Zu offensichtlich sind die Energievergeudungs- und Verpuffungseffekte, weil sich die immer kurzatmigere Abfolge von Moden, von Trends im ‚Theoriedesign‘ auf Dauer eben doch nicht als Erkenntnisfortschritt verkaufen läßt.
Aus Schaden wird man klug. Deshalb propagiert und praktiziert dieser Band literaturwissenschaftliches Zuhören. Die ‚Schreibweisen‘, auf die der Titel anspielt, sind nicht Paradigmenstifter und Schul-Gurus der akademischen Zunft, sondern die so lange ins Abseits gedrängten, ausgegrenzten und mit Taschenspielertricks ‚dekonstruierten‘ Autoren. Ihre Primärerfahrung, das Insiderwissen der Schriftsteller, und zwar jedweder Couleur, gilt es wiederzugewinnen und zu rehabilitieren. Dazu waren einige Vorentscheidungen nötig, die offenzulegen sind. Erstens zum Untersuchungs- und Dokumentationszeitraum, der im wesentlichen die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und das erste Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende umfaßt. Der Grund für diese Rahmung ist die Intensivierung einer für unser Anliegen entscheidenden literaturgeschichtlichen Anomalie, nämlich der Abspaltung der Theoriebildung von der literarischen Praxis durch die fortschreitende Institutionalisierung und Professionalisierung der Literaturwissenschaft. Die bis dahin epochenübergreifend gültige Personalunion von Literat und Literaturtheoretiker, wie sie sich im englischsprachigen Raum noch einmal fast prototypisch in T.S. Eliot zeigt, zerbricht auf breiter Front, und es entsteht ein akademischer Spezialistenpool, der sich aus ‚ausgewiesenen‘ Experten – in des Wortes doppelter Bedeutung – zusammensetzt und zunehmend selbstreferentiell agiert. Da unmittelbare künstlerische Schreiberfahrung im akademischen Diskurs kaum mehr interessiert, ja nicht selten sogar als disqualifizierend erlebt wird, ist der verlorene Teil des abgebrochenen Dialogs zu rekonstruieren und ins Bewußtsein zu heben. Das klingt paradox, weil bei einer Gesprächsverweigerung doch von dem, den man mundtot zu machen versucht, nichts mehr verlautet, wenn man ihn nur konsequent genug ignoriert. Im vorliegenden Fall aber bleibt der Maulkorb durchlässig und ist etwa mit den Auswirkungen der Zensur nicht zu vergleichen. An dem ostentativen akademischen Desinteresse vorbei kann der Schriftsteller immer noch mit einer breiteren Öffentlichkeit der Literaturinteressierten und Leser sprechen und wird von den Verlagen und Medien in vielfacher Hinsicht dazu eingeladen und ermuntert. Außerdem gibt es universitäre Restforen wie die – wiederum auch dem nichtstudentischen Publikum offenstehende – Einrichtung der Poetik-Vorlesung, auf denen auskunftswillige Literaten Gehör finden. So erklärt sich, daß hauptsächlich Interviewsammlungen, etwa des Paris Review, und publizierte Vorlesungsreihen wie die in Frankfurt oder München ausgewertet wurden, weil sie die größte Breitenwirkung erzielen, einen heterogenen Adressatenkreis ansprechen und sich damit zumindest implizit gegen die Monopolisierung der Diskussion durch eine Expertenkaste verwahren. (Essays geraten da schon eher in das Gravitationsfeld der Neuscholastik und die Außenbezirke der akademischen Besatzungszone, zumal sich die konfrontative Situation, wie wir sehen werden, durch eine nachrückende angepaßte und daher vom postmodernen Diskurs einzugemeindende Schriftstellergeneration einschneidend verändert.)
Obwohl fast nur englisch- und deutschsprachige Autoren zu Wort kommen, was auf das bipolar angelegte Forschungsinteresse des Autors zurückzuführen ist, besteht die begründete Hoffnung, daß die Ergebnisse trotzdem allgemeingültig und repräsentativ ausfallen werden. Schon auf den fünf untersuchten Literaturmärkten Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Großbritanniens und der USA kann man bei weitem nicht alle einschlägigen Veröffentlichungen zur Kenntnis nehmen, und doch habe ich die Recherche nach etlichen Monaten guten Gewissens abbrechen können, weil sich das auskonturierte Bild trotz des Stroms weiterhin eintreffender Fernleihen nicht mehr merklich verschob. Auch unter zeitgenössischen Schriftstellern gibt es, hinter dem Stimmengewirr der Selbstauskünfte und unter den Überlagerungen ganz eigentümlicher Signaturen, also einen auf Primärerfahrung basierenden Konsens darüber, was es mit dem Schreiben – und dem Lesen – auf sich hat, warum es sich lohnt, der Literatur zur Verfügung zu stehen, und was das Medium, in dem und für das man lebt, zu leisten vermag und was nicht. Die Befürchtung, sich in einem Nest von Widersprüchen zu verfangen, die Flannery O’Connor vor den Mitgliedern eines Workshops einmal in die launigen Worte gekleidet hat:
I understand that this is a course called “How the Writer Writes,” and that each week you are exposed to a different writer who holds forth on the subject. The only parallel I can think of to this is having the zoo come to you, one animal at a time; and I suspect that what you hear one week from the giraffe is contradicted the next week by the baboon (Hersey 1974: 46),
ist also gegenstandslos. Es gibt einen Kernbezirk, in dem sich nicht nur die zeitgenössischen Autoren einig sind. Ihr Selbstbild läßt sich auch ohne größere Probleme mit dem abgleichen, was wir aus antiken Poetiken über den literarischen Schaffensprozeß wissen und was von der Renaissance bis zur Romantik und darüber hinaus unstrittig war. Solche Kontinuitäten, gemeinhin mit dem Kürzel der menschlichen Natur versehen, sind konstruktivistischen Fachvertretern, die die grenzenlose Formbarkeit und Plastizität von unseresgleichen und damit die menschliche Ungestalt auf ihre Fahnen geschrieben haben, selbstredend ein Greuel. Aber ist es wirklich so sonderbar, daß Wesen, die sich Jahrtausende zurücklesen können und selbst die Bildersprache der Höhlenmalerei noch halbwegs begreifen, sich auch in dem wiedererkennen, was ihre Vorfahren über die eigenen kreativen Anstrengungen verlauten ließen? Das Gegenteil müßte zu Verwunderung Anlaß geben, denn wir verstehen die kulturelle Überlieferung und damit zugleich die vormodernen Ursprungsgeschichten der Kunst, weil sie immer noch, weil sie nach wie vor so zur Welt kommt wie in Willendorf und in Lespugue.
Seit zwei Generationen ist diese Selbstverständlichkeit unter die Räder geraten, hacken die Großtheoretiker und ihre Multiplikatoren auch auf den Nervenstrang ein, der Tradition heißt und ununterbrochen jene Impulse aus dem Erfahrungsraum Geschichte herantransportiert, ohne die wir der Querschnittslähmung von Unbelehrbarkeit und Ignoranz anheimfallen müßten. Wie das aussehen könnte, zeichnet sich inzwischen ab, denn in ihrem maßlosen Ikonoklasmus verkehrt die postmoderne Theoriebildung das Gewesene zur Vorgeschichte der Irrtümer und sich selbst in einen Eraserhead. Vor Lacan, Deleuze, Cixous, Kristeva, Said oder Haraway kein wahres Wissen und kein Heil, und selbst die neuen Autoritäten legitimieren sich über weite Strecken dekonstruktiv, d.h. durch das Machtwort eines invertierten Fiat und verdorrenden delete:
Theory’s favourite eureka moments have usually been negative epiphanies: […] Reports of the ‘death of the author’ (Barthes), ‘death of the subject’ (Foucault) and ‘death of the real’ (Baudrillard), together with the news that grand narratives are obsolete (Lyotard), and there is nothing outside the text (Derrida), can only reinforce the suspicion that theory specializes in obituary-writing and general debunking. (Greaney 2006: 2)
Die im übrigen neoplatonische Unterstellung, daß Schriftsteller nicht wissen, was Literatur ist oder was sie tun, wenn sie zur Feder oder zum Laptop greifen, und sich diese Dinge von Dritten in aufgeblasener Wissenschaftsprosa erklären lassen müssen, paßt genau ins Bild. Bevor wir es im folgenden energisch zurechtrücken und denen das Wort erteilen, die es zu gebrauchen wissen, kommen wir nicht umhin, noch einmal – in einer Art Schnelldurchlauf – das Ausmaß der Flurschäden sowie den Dünkel und die Prätentionen Revue passieren zu lassen, in denen sich große Teile der Theorieproduktion des späten 20. Jahrhunderts von dem unterscheiden, was unter dieser Bezeichnung in früheren Epochen verhandelt wurde. Und natürlich wird darüber nachzudenken sein, durch welche neuen Rahmenbedingungen und Motivationsgefüge die geschilderte kollektive Entgleisung möglich oder vielleicht sogar unvermeidlich wurde.
Auszug aus: Schreibweise. Warum Schriftsteller mehr von der Literatur verstehen als ihre akademischen Bevormunder. Würzburg 2014.