Wiedergänger

Auf den Spuren der literarischen Kunstfigur Klaus Steintal, die als Zombie und Untoter Horstmanns Schriften durchgeistert

 

Ich wollte mich davonmachen, aber Gopul war zu einem großen Stein geworden, der rollte auf meine Beine. In meinem Hirn versteinerten die Gänge.

Aus: Klaus Steintal (Pseud.). „Er starb aus freiem Entschluß“. Ein Schriftwechsel mit Nekropolis. Obertshausen 1976.

* * *

Klaus Steintal wurde am 15.3.1949 in der westfälischen Kleinstadt Bünde geboren, die er kaum jemals für längere Zeit verlassen hat. Er starb aus freiem Entschluß am 20.11.1968 bei einem Frontalzusammenstoß in der Nähe von Münster, der noch weiteren drei Menschen das Leben kostete.

Dr. Ulrich Horstmann

Aus: Klaus Steintal (Pseud.). „Er starb aus freiem Entschluß“. Ein Schriftwechsel mit Nekropolis. Obertshausen 1976. (Nachwort)

* * *

STEINTAL: Mein Knie! Paß auf du! (massiert es vorsichtig; zieht dann den Faustkeil aus der Tasche und wendet ihn ostentativ hin und her) Wer weiß, ob du die Feier ohne Kopfschmerzen überstehst, Fantini. (…)
FANTINI: Die Kniescheibe jedenfalls ist hin. Die wird nicht wieder. (…)
FANTINI (insistierend): Die Kniescheibe. Deine Kniescheibe. Ein ganz schlechtes Zeichen, Steintal. … Bei den Neandertalern haben sie den Toten die Kniescheibe rausoperiert, damit sie nicht zurückkommen. Bei dir kann man sich die Mühe schon sparen.
STEINTAL: Was soll das heißen?
FANTINI: Du hast doch eine Vorliebe für die Steinzeit. Da werden dir solche Vorstellungen doch genehm sein, Kerl.

Aus: Würm. Ein Spektakel aus der Nachgeschichte. In: Beschwörung Schattenreich. Theaterstücke und Hörspiele 1978 bis 1990. Paderborn 1996.

* * *

STEINTAL: Wir sind in keinem Gefängnis, und wir sind auf keinem Kontinent. (…) Das hier ist ein Zoo, versteht ihr. Ein zoologischer Garten für gehobene Ansprüche. (…) Und das Etablissement, meine Damen, mein Herr, in dem sie sich befinden und in dem sie den Rest ihrer Tage zubringen werden, ist ein Menschenkäfig. Herzlich willkommen.

Aus: Terrarium. Einführung in die Menschenhaltung. In: Beschwörung Schattenreich. Theaterstücke und Hörspiele 1978 bis 1990. Paderborn 1996.

* * *

DAS ZWEITE BEISITZENDE: Langsam … langsam! Möglicherweise haben sie nicht nur zwei … Geschlechter, sondern auch zwei Namen.
FRAU: Vor- und Zuname, sicher. Barbara Steintal.
MANN: Klaus Steintal.

Aus: Petition für einen Planeten. In: Beschwörung Schattenreich. Theaterstücke und Hörspiele 1978 bis 1990. Paderborn 1996.

* * *

(Petra zu Steintal:) „Ich bekomme Angst vor dir. Du sitzt da und bist selbst schon tot … du bist ein Zombie … (…), ohne Anteilnahme, ohne Gefühlsbindungen, ohne Willen, ohne Zuneigung, ohne Haß … du (…) hast die Katastrophe schon hinter dir … du bist das … Endprodukt der Geschichte – eine Mumie aus der Zukunft“.

Aus: Steintals Vandalenpark. Erzählung. Siegen 1981.

* * *

Zynismus ist die Schwimmweste der Vernunft.

K. Steintal

Aus: Hirnschlag. Aphorismen – Abtestate – Berserkasmen. Göttingen 1983. (Vorsatz)

* * *

Das Korrekturlesen übernahm dankenswerterweise Herr K. Steintal.

Aus: Ästhetizismus und Dekadenz. München 1983. (Danksagung)

* * *

„Ein heller Renault Espace?“
„Allerdings.“
„Angemeldet auf den Namen Steintaler?“
„Sterntaler. Aber woher wissen …“
„Wir leben im Zeitalter des Sprechfunks, Herr Sterntaler.“
„Patzer, Malte-Laurenz Patzer. Der Wagen gehört meiner Freundin.“

Aus: Patzer. Roman. Zürich 1990.

* * *

Ich lege die Karten auf den Tisch. Mein Verhältnis zu Ulrich Horstmann ist kein ungetrübtes, woran sein plötzliches Ableben nicht das geringste ändert. Vor einem halben Jahr habe ich meine Promotion über den Earl of Rochester (1648-1680) abgebrochen. Horstmann war damals mein Doktorvater und hat mich mit seiner Besserwisserei und seinen ständigen Plagiatsvorwürfen an den Rand des seelischen und körperlichen Ruins und für mehrere Monate in die Psychiatrie getrieben. Literarisch mag er das ein oder andere geleistet und sich unter die ersten der zweiten Garnitur emporgeschrieben haben, akademisch aber war er eine Heimsuchung, die Rache Ostwestfalens an der britischen Weltoffenheit, die Nemesis des common sense. Klaus Steintal

Aus: Konservatorium. Geschichten über kurz oder lang. Paderborn 1995. (Nachwort)

* * *

So lange in den eigenen Spuren zurückgehen, bis man auf Entgegenkommen stößt. Dann dem Jüngeren den Vortritt lassen. Jetzt ist der Weg frei.

Aus: Einfallstor. Neue Aphorismen. Oldenburg 1998.

* * *

Abkehr vom Solipsismus, Hinwendung zu den Dingen, die uns umgeben, ist (…) der Ausgangspunkt einer inneren Wandlung (…). Nach außen hin leben, statt im Teufelskreis des Gattungsnarzißmus auf der Stelle zu treten, heißt nämlich auch von dem zu lernen, was im Nicht-Mensch-lichen begegnet. Die Steine z. B. sind der Inbegriff von Geduld und Langmut. Hat beides erst abgefärbt, wird aus der Distanz, im Rückblick auf den Hexenkessel der Geschichte, eine in der Tat fast mystische, jedenfalls aber versöhnliche Perspektive möglich.

Jeffers-Meditationen oder Die Poesie als Abwendungskunst. Heidelberg: Mattes, 1998.

* * *

Klaus Steintal: Wird aber auch Zeit, daß ich ins Spiel komme, Herrschaften. Ein Interview ohne die Hauptperson, und keiner merkt was! Also: Steintal hier, Klaus Steintal. Der Mann, der Geschichten macht, der sich abstrampelt, der das ausbaden muß, was hinter den Titelseiten passiert. Gut, es steht Horstmann drauf, der hat die Stirn. Aber es ist Steintal drin. Und der Tag wird kommen, wo ich ein für allemal klarstelle, wer hier wessen Pseudonym gewesen ist. Bis dahin sind wir natürlich die besten Kumpel, ein Herz und eine Seele, das belletristische Joint venture par excellence und was der sonst noch so hochgurgelt, der Escorial-Grüne.

Ulrich Horstmann: Ich trinke, was mir paßt. Und ich verlange, daß diese Einlassungen gestrichen werden. Niemand kann mir zumuten, ein Gespräch zu führen, bei dem eine literarische Figur dazwischenredet, die ich geschaffen habe.

Klaus Steintal: Westentaschen-Pirandello!

Ulrich Horstmann: Darf ich mich kurz rückversichern? Wir sind uns einig, daß dieser Querulant gestrichen wird, meine Herren?

Aus: Zwischen Melancholie und Makulatur. Ein nicht ganz vollständiges Gespräch zwischen Ulrich Horstmann, Klaus Steintal, Max Lorenzen und Frank Müller. Internet-Veröffentlichung unter www.philosophia-online.de

* * *

Man hat im Savoy so angenehm diniert, daß die Weste ein wenig spannt und die Taschenuhr nur mit einem Ruck ans Gaslicht zu befördern ist. Dafür zeigt das Zifferblatt der Stonedale Empire aber auch nicht mehr fünf vor zwölf, sondern gleich zehn. Zeit für einen Schmetterlingseffekt avant la lettre, denn zu dieser späten Stunde hat der Maler-Dandy James McNeill Whistler, der jenes – mit einem Stachel versehene – Insekt als Logo und Markenzeichen verwendet, zum Vortrag geladen.

Aus: Ausgewiesene Experten. Frankfurt am Main et al. 2003.

* * *

In Verlängerung der Abbiegespur eine weitere Monade, die fensterlose, verblendete Universitätsbibliothek, in deren Regalen für Wissbegierige rein gar nichts über Eisbrand, aber manches aufschlussreiche über J. Alda Baoth zu finden wäre, ließen alle Involvierten sie nicht ebenso links liegen wie Würmelings Wagen, der nach Überquerung der Stadtautobahn in der Bahnhofsunterführung verschwindet, darin abermals den Tunnel wechselt und erst auf der Steintaler Allee, der vierspurig ausgebauten Ausfallstraße Richtung Westen, wieder in Erscheinung tritt.

Aus: J. Ein Halbweltroman. Oldenburg 2002.

* * *

Steckbrief K.S.
(für F.M.)

Der STEINTAL, Klaus
Geburtsdatum: o.J.
Geburtsort: Vakatville
Größe: ja
Augenfarbe: verschossen
wohnhaft: a.a.O.
wird hiermit zur Fahndung ausgeschrieben.
Der Gesuchte macht sich
durch seine verwechselbare Art
an unbescholtene Bürger heran,
schmeichelt sich ein
und führt Contuinuity Girls und Studienabbrecher,
Straßenbauingenieure und Streetwalkerinnen,
auf die Abwege der Verschriftlichung.
Ein Schicksal, das sie nicht haben,
Erfahrungen, die sie nicht machen,
erklärt er zu ihrem Kapital,
dient sich den unbeschriebenen Blättern
als übersprudelnder Lückenfüller,
billiger Souffleur, Ghostwriter um Gotteslohn,
als Schönschreibprogramm auf zwei Beinen an
und ist in seiner kostspieligen Verwandlung
zum Doppelgänger doch der einzig Einfallsreiche:
ein Parasit, sich mästend an dem implantierten Hirngespinst,
sich an seinen Hirngespinsten mästen zu können,
ein Vampir der Einbildungskraft,
der das Herzblut seiner Opfer in Wallung bringt,
damit es sich besser saufen läßt,
ein Hochstapler der Fiktionen,
der über den Niederungen seines Namens
das Blaue vom Himmel verspricht
und auf seine Verläßlichkeit pocht,
sobald es am Ende die Lippen färbt.
VORSICHT, der Steintal gibt sich
in der Öffentlichkeit gern zartbesaitet
und weckt Beschützerinstinkte.
Für seine Ergreifung
ist ein Preis
in Anschlag gebracht.

Aus: Picknick am Schlagfluß. Gedichte. Oldenburg 2005.