Einwurf. Ansichten eines Spielballs. Rede über das Ausgeliefertsein und seine Hirngespinste. (2005)

Trauen Sie Ihren Augen nicht! Was hier in Schlips und Kragen vor Sie hintritt, ist ein Landsknecht. Frisch aus seinem Dreißigjährigen Krieg: 1973-2003. Oder vielmehr ziemlich unfrisch; zusammengehauen und ausgeblutet. Ein Söldner-Wrack, um ehrlich zu sein, dem man seinen Westfälischen Frieden mit der Welt nicht mehr aufzwingen und diktieren muß, sondern das blindlings alles unterschreibt, was man ihm hinhält, so wie es früher mechanisch jeden Abzug betätigt hat, der in Reichweite geriet.

Nehmen Sie mir nicht ab, meine martialische Vergangenheit? Meine geharnischten Amokläufe? Meine Verwüstungslust? Schade drum, weil ich sie mitnichten unter den Teppich kehren will. Mein Krieg war keine zehn Jahre alt, als ich zur weltweiten Ausräucherung angetreten bin und hineingeprotzt habe in die Glashäuser der Friedfertigen, die Zitadellen der Abschreckung, die Kühltürme des Kalten Krieges, daß es eine Art hatte. Auf dem Papier geprotzt, sicher, wo sonst? Was steht denn von einem Pappkameraden, einem mehrfach makulierten Marodeur anders zu erwarten. Jedenfalls habe ich sie zwei Jahrzehnte nicht mehr einholen müssen, meine Untier-Flagge, und darunter auch prosaisch, lyrisch und essayistisch ohne Rücksicht auf Verluste mein Unwesen getrieben.

Trauen Sie Ihren Ohren nicht! Was hier so miles gloriosus-haft daherschwadroniert und naßforsch poltert wie eine Schaufel Erde auf dem Sargdeckel, ist eine Stimme, der es die Stimme verschlagen hat. Und das liegt nicht am Untier-Ausmusterungsbescheid des fahnenflüchtigen Suhrkamp-Verlags, demzufolge meiner „transzendentaldefätistischen Diagnostik derzeit keine ausreichenden Vertriebsaussichten [mehr] eingeräumt werden“. Solche Standpauken und Standgerichte gehören zum literarischen Berufsrisiko. Wer die Degradierungen des Zeitgeistes nicht wegstecken kann, der wird auch keine gute Figur machen, wenn ihn das kulturelle Oberkommando ein paar Kampagnen später ans Bundesverdienstkreuz zu schlagen versucht.

Nein, meine schlecht getarnte, durchschaubar überkompensierte Niederlage ist grundsätzlicherer Natur. Der Krieg ist vorüber. Ich bin frei. Nichts und niemand erteilt mir mehr Befehle, kommandiert mich herum, schickt mich auf philosophische oder belletristische Himmelfahrtskommandos. Ich kann tun und lassen, was ich will. Aber für einen Schriftsteller ist genau das die denkbar schlimmste Option, die existentielle Katastrophe. Ein demissionierter Autor ist keiner mehr. Und der schlimmste Fluch, den die Branche zu verschleudern hat, lautet: Mögest du deiner Kunst Herr werden!

Keine Frage, es hat schon dickere getroffen. Spielbälle, meine ich. Runder, praller und aus zäherem Leder als der Vortragende sind sie doch in der Ecke und im Aus gelandet. Manche waren da schon mit dem eigenen Nachruf beschriftet wie der dramatisch eiernde Exzentriker Franz Grillparzer:

Was je den Menschen schwergefallen,
eins ist das Bitterste von allen:
Vermissen, was einst unser war,
den Kranz verlieren aus dem Haar,
nachdem man sterben sich gesehen,
mit seiner eigenen Leiche gehen.

Andere erwiesen sich zu vorausschauender Objektivierung fähig wie der Lieblose Legenden-Erzähler Wolfgang Hildesheimer. „Viele Kollegen“, merkte er an, „laborieren unter dem falschen Glauben, daß Schriftsteller-sein eine Entscheidung fürs Leben ist. In Wirklichkeit ist es keine Entscheidung, sondern ein Schicksal, das sich mit jedem Buch wenden kann.“ Das Literatenschicksal Hildesheimer ließ sich das nicht zweimal sagen, und er verstummte. Manche Spielbälle schließlich werden doppelt legendär durch Flugbahn und die anschließende Verweigerung reputierlichen Nachhüpfens. So zu beobachten bei dem im besten Sinne volkstümlichen englischen Lyriker Philip Larkin, dem man 1983 das Ehrenamt des Hofdichters und poeta laureatus antrug und der mit der ebenso einsilbigen wie unverhohlenen Begründung absagte: „Poetry gave me up six years ago, and I have no expectation of being revisited.“

Warum ich sie anrollen lasse, die großen eingedellten und aus dem Spiel genommenen Kollegen? Weil es tröstlich ist, daß das eigene Malheur Gesellschaft hat, und zwar auch in der Oberliga? Fraglos. Aber noch wichtiger ist mir die Beglaubigungsfunktion dieser drei Zeugen. Denn was ich im folgenden behaupten und ein wenig nachvollziehbar machen will, kann Schützenhilfe gebrauchen wie jedes Paradox. Ich spreche somit nicht von der Freiheit, die ich für metadiskursiv halte, und auch nicht von der Freiheit der Kunst, die heute in der Überbietungslogik des Marktes und in der Gleichgültigkeit des Konsumenten auf unerbittlichere Gegner stößt, als Zensur und das Banausentum seligen Angedenkens es jemals waren. Vielmehr will ich mein Augenmerk richten auf die Freiheit in der Kunst, eine bizarre Freiheit, die identisch ist mit dem bereitwilligen Verzicht auf Selbstbestimmung und einem rückhaltlos bejahten Ausgeliefertsein.

Zur Klärung der Fronten ein paar drastisch formulierte Erinnerungen an das verlorene Paradies, die dreißig wüsten Jahre, das Schreiben in Saus und Braus, den gebrandschatzten Schädel und die verpraßten Bildungsgüter.

„A man cannot say, ‚I will compose poetry.‘ The greatest poet even cannot say it.“ Das notierte Percy Bysshe Shelley, einer der virtuosesten Könner, der es wissen mußte. Er redet von einer Unverfügbarkeit, die durch keine Willensstärke zu überspielen oder in den Griff zu bekommen ist, von jenem Eigensinn der Kunst, der schaltet und waltet, wie er will, und nicht, wie es uns zupasse kommt. Auch an Nachgeborenen wurde da gern das eine oder andere Exempel statuiert, weshalb ich mich periodisch kaltgestellt sah und von vorneherein als Quartalsliterat über die Runden kommen mußte. Ganz wie sein bekannteres alkoholabhängiges Double, der Quartalssäufer, bin ich von den rauschhaften, kreativen Intervallen immer wieder in aride, knochentrockene, ausgedörrte Perioden geraten, in denen die nach dem Lebenselixier dürstende Zunge unter dem Gaumen klebte und mir meine staubgraue Umwelt schulterklopfend Normalität bescheinigte.

Das war als Kompliment gemeint für ein Wesen, das jetzt wieder verläßlich, pünktlich und mit den mittelfristig zu erwartenden Resultaten seine Pflicht tat, das in Wirklichkeit aber lieber heute als morgen zurückverwandelt werden wollte in etwas ganz anderes, Unverantwortliches, in den Hochstapler und Roßtäuscher, der hinter einer geschickt aufrechterhaltenen Fassade von Berechenbarkeit und Disziplin seinem Brotberuf die Zeit stahl und sich in der Heimlichkeit des Lasters so mit seinem Allerheiligsten vergnügte wie der Quartalssäufer mit dem Flachmann. Nur daß die Droge Kunst eben auf Köpfe statt auf Flaschen gezogen wird und keiner über Abfülltermin und Distributionssystem im Bilde ist.

Dreißig Jahre lang ist etwas nach Gutdünken mit mir umgesprungen. Hat mich ein- und ausgeschaltet, wie ein Schleifer Rekruten mal hochjagt, mal zur Öde des Nichtstuns verdammt. Wie die Einberufenen durch den Schlamm auf den Asphalt und vom Asphalt ins eiskalte Wasser gehetzt werden, bin ich immer schon abwechselnd durch die Mangel von Essay, Lyrik, Roman und Aphorismus gedreht worden, bis mir und den verzweifelnden Lektoren die Sinne schwanden. Wieder und wieder ging etwas ganz anderes von neuem los und machte die Kontinuität und Wiedererkennbarkeit zunichte, ohne die auch der Buchmarkt den Anbieter so wenig durchsetzen kann wie der Kaufpark ein Produkt ohne Markenzeichen. Für das Finanzamt steht deshalb schon länger fest, die Doppelexistenz hat sich nicht ausgezahlt. Und welche Summe ziehe ich aus den Blessuren, Gewaltmärschen, Ausfällen, aus ungereimten Scharmützeln und schuldig gebliebenem Fersengeld? Ich ziehe daraus einen immerhin siebenundreißigstelligen Saldo. Er lautet: Ich bin ein verfluchter Glückspilz gewesen.

Wie kann ein Schriftsteller mittlerer Erfolglosigkeit so etwas behaupten? Schlicht und einfach, weil die Innenperspektive die Außenansicht, die äußerlichen Ansichten, verblassen läßt, weshalb ich Sie gleich eingangs vor Augenschein und Hörensagen gewarnt hatte. Ich weiß nicht, was und worum in der Kunst gespielt wird. Ich kenne den Spielmacher ebenso wenig wie meine bedeutenden und unbedeutenden Vorgänger in dieser grandiosen Arena, die sich deshalb zur Erklärung des Rätsels mit Rätselbegriffen wie Enthusiasmus, Inspiration, Genie und Musen-Tête-à-tête oder, wenn Sie es etwas zeitgemäßer wünschen, dem Unterbewußten, der écriture, der Alterität oder the Other behelfen mußten. Ich weiß aber sehr wohl, daß dieses Andere, das mich packt und einwirft, das mir dreißig Jahre mitgespielt und wohl auch mit mir gespielt hat, im doppelten Sinne ein Nicht-Ich ist, nämlich erstens eine Größe jenseits der – für uns stets halbwegs einsichtigen – Subjektivität und zweitens ein mentaler ‚Fremdkörper‘, der unser Denkorgan instrumentalisiert, will sagen, der das zum Instrument oder Spielball macht, an dem er sich in seiner Spiellaune vergreift. Und ich weiß noch besser: Diese keineswegs feinfühlige und rücksichtsvolle, vielmehr reichlich unbekümmerte und – wie Künstlerbiographien bezeugen – nicht selten durchaus inhumane Handhabung des Talentierten zählt zu den beglückendsten Erfahrungen, deren ein Mensch teilhaftig werden kann.

Von den Parabeln der Spielbälle aus sind Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Freiheit, Erfolg die hehren Ideale – der Unterprivilegierten, der Nicht-Aktiven, der Zuschauer. Als Ex-Freischärler und Reservist sitze ich inzwischen mit dem zahlenden Publikum auf der Tribüne und bringe nicht mehr den Hochmut auf, die Lebenswerte und das Lebenswerte auf der langen Bank neben mir mit einem lässigen Abwinken zu kommentieren. Und trotzdem: alle Freiheiten dieser Welt für das Noch-Einmal, das Wieder-ins-Spiel-Kommen, die Fremdbestimmung des Projektils, Dumdum einer höheren Intelligenz, für das Zerschossen-, das Zerdroschenwerden bis zum Abpfiff, die Arroganz der Klaviatur, die mitbekommt, wie es klingt, wenn sie – angeschlagen – nach allen Regeln der Kunst weiterbearbeitet wird.

Der Wunsch nach einem da capo bleibt unerhört. Und überhaupt sind Sie dafür die ganz falschen Adressaten. Warum also breite ich meine Schriftstellerbiographie vor Ihnen aus, mute ich Gutwilligen diese verworrene, verheerende Seite meines Innenlebens zu? Den Grund liefert das als Frage formulierte Thema unseres Symposiums: „Wie frei ist der Mensch zwischen Schicksal und Selbstbestimmung?“ In dieser Frage scheint mir eine Wertung impliziert zu sein, die das Schicksal gleichsam von zwei Seiten in die Zange nimmt. Freiheit ist gut, so lese ich mit, Selbstbestimmung fast ein Synonym und folglich auch nicht schlechter. Das Schicksal aber, das, woran man nichts ändern kann, das, was einem trotz Gegenwehr ganz unfreiwillig widerfährt, das ist die üble Antithese; und wir müssen alles auffahren, was die Arsenale der Kontingenz-Bewältigung zu bieten haben – den Mythos, die Religion, die Philosophie, die Wissenschaften, die Politik -, um diese Plage aller Plagen wenn nicht aus der Welt zu schaffen, so doch immer selbstbestimmter an die Peripherie abzudrängen.

Aus so einer Randzone, dem persönlichen Mikrokosmos des Dichters a.D. U.H., habe ich Ihnen berichtet. Und siehe da, hier und sicherlich anderswo in der sozialen Randgruppe der Kreativen stehen die eben unterstellten Wertigkeiten kopf. Ein Künstlerschicksal haben und möglichst lange behalten zu dürfen, auch wenn dabei alle Überziehungskredite platzen, das ist der höchste Wunsch und das ultimative Ziel solcher Existenzen. Unvernunft, Verbohrtheit, Monomanie und Obsession heißen die guten Feen, die an ihrer Wiege stehen. Und Freiheit wie Selbstbestimmung können den ästhetisch Rekrutierten gestohlen bleiben, es sei denn, man definiert sie um zur Freiheit, sich auszuliefern.

Aber die Künstler, höre ich einwenden, sind ein exotisches Völkchen und sich auch untereinander nicht grün, wobei zum Beispiel die geschäftstüchtig-postmoderne Fraktion einer spätromantischen, was sage ich, einer zuspätromantischen Selbststilisierung zum zerbrochenen Haudegen und pulververschossenen Schmerzensmann von vorneherein „keine ausreichenden Vertriebsaussichten“ mehr zugestehen will. Und selbst wenn es ein einheitliches Lebensgefühl und homogene Lebenserfahrungen dieser verschwindenden Minderheit gäbe, wären sie nicht auf die Existenzbewältigungsprobleme der erdrückenden Mehrheit anwendbar, um die es doch wohl gehen muß. Beide Behauptungen möchte ich bestreiten.

Dabei gehe ich im ersten Fall thetisch und nur im zweiten argumentativ vor, weil wir sonst in Gefahr geraten, uns auf einem Nebenkriegsschauplatz zu verzetteln. Natürlich fällt die Heterogenität, die Vielschichtig- und Vielgesichtigkeit der Kunstgeschichte ins Auge. Es gibt klar unterscheidbare ‚Handschriften‘, Stile, Epochen; es gibt Innovationsschübe und die Retro-Kunst der Renaissancen. Und in der virtuellen Portraitgalerie der theoretischen Selbst- und Idealbilder des Künstlers ist es nicht anders. Trotzdem haben nicht nur T.S. Eliot und George Steiner davor gewarnt, dem Kaleidoskop der Erscheinungsformen die Sequenzialität eines Fortschritts-Movie zu unterstellen. Shakespeare hat die griechischen Prototypen des Dramas so wenig überholt wie Heiner Müllers Shakespeare-Adaptionen und vergegenwärtigungen den Klassiker im Original obsolet machen. Literatur und Kunst bezeichnen keine Verdrängungswettbewerbe, sondern Erfüllungs- und Weltbereicherungsprogramme. Aversionen, Rivalitäten und Feindschaften sind nur die List der (Kunst-)Geschichte, um solches Luxurieren zu bewerkstelligen und die Buntheit der Bestände zu garantieren.

Deshalb wollen wir als Vertreter der einen Subkultur von den Höhlenmalereien bis zum action painting, von Gilgamesch bis Beckett, Borges und all den anderen Übermythigen des 20. Jahrhunderts kein Blatt vor den Mund nehmen und tapfer weiter als ‚Ewiggestrige‘ und ‚hohle Avantgardisten‘, als ‚Blender‘, ‚Kunsthandwerker‘, ‚Abschreiber‘ und ‚Abgeschriebene‘ aufeinander eindreschen. Es bleibt ja in der Familie und schlägt uns hinterrücks zum Guten aus, womit wir noch nicht ganz beim zweiten Einwand, aber schon wieder auf vertrautem Terrain angekommen wären. Denn wie das individuelle Werk nur Als-ob-Kunst und Mimikry-Literatur bleibt, wenn nichts anderes, wenn nicht das Andere mitspielt, so kann auch ein zur Streitkultur raffinierter Verlust der Selbstbeherrschung dem schönen Wildwuchs und Wildwuchs des Schönen nur förderlich sein. Über das Warum darf spekuliert werden, aber vielleicht ist es ja so, daß durch das Undisziplinierte jenes Undisziplinierbare, der schon genannte Eigensinn, leichter Einlaß findet, ohne den ästhetisches Gelingen nicht denkbar ist.

Kurzum, trotz der munter herumgeschobenen terminologischen Kulissen behaupte ich die Repräsentanz meiner persönlichen Erfahrungen. Kunst meint immer die Invokation eines verstörend Fremden; die bezaubernde Eloquenz der Literatur verdankt sich einer gespaltenen Zunge. Sie ist nicht verfügbar, sie verfügt über den Autor, und wenn er sich seiner am sichersten ist, bleibt sie ihm im Halse stecken, und er setzt die Fakes in die Welt, die das Barsortiment aufblähen und die Buchhandlungen verstopfen. Gleichzeitig schlägt das Prinzip Hinterrücks über das Künstlerkollektiv aber auch die Brücke zwischen der Singularität einer Lebensgeschichte und der Globalität der Historie, zwischen dem Mikrokosmos meines Dreißigjährigen Krieges und dem Universum aus Tatendrang, dessen immer neuen Sternen und Dunkelwolken der Große Ploetz in immer neuen Auflagen hinterherschreibt.

Gerade zwischen diesen Extremen des vereinzelt und des gemeinsam Erlebten existiert nämlich – im Gegensatz zur oben angeführten Unvereinbarkeitsbehauptung – eine erstaunliche Homologie. Beide eint die Erfahrung des Ausgeliefertseins. Ich war nie Herr meiner Einbildungskraft, und doch habe ich, wenn mich nicht alles täuscht, das ein oder andere Kunstwerk hervorgebracht. Mein Zeitgenosse Louis Legion war nie geschichtsmächtig und doch hat er am Ende weniger federführend als mitläuferisch, eher in Deckung als prominent eine Geschichte mitgemacht und mit gemacht, die nicht seine geworden ist und in der er sich immer nur teilweise – partikular bis partikulös – wiedererkennt. Kann man ihn mit diesem Schicksal aussöhnen, kann man ihm Trost zusprechen, so wie ich mich über das Ende meiner unmerklichen Mitarbeit an der deutschen Literaturgeschichte hinwegzutrösten versuche?

Womöglich doch! Und zwar indem man Geschichten gegen die Verzweiflung an der Geschichte erzählt. Die erste kursiert unter meinem Namen, und zwei weitere Palliativprodukte will ich Ihnen nicht vorenthalten. In allen dreien tritt das nicht-humane, das unmenschlich Andere auf, mit dem Sie schon Bekanntschaft geschlossen haben. Das ist aber, bei Licht besehen, auch kein Wunder; schließlich hat sich der Hegelsche Weltgeist aufs Altenteil zurückgezogen, wo wir ihm das Gnadenbrot, das er bei den Märchenonkeln verzehrt, nicht neiden wollen.

Traut euren Augen und Ohren nicht, wenn Historie verhandelt wird, legt uns das Untier, Jahrgang 1983 und Produkt der Abschreckung und der Nachrüstungsbeschlüsse, nahe, denn der menschliche Wahrnehmungsapparat ist fehljustiert, und schon die Dateneingabe, von der Verarbeitung ganz zu schweigen, erweist sich als prekär. Nicht Menschheitsgeschichte ist skandalös; der Skandal besteht vielmehr darin, daß wir ihr die kontrafaktischen Parameter unserer Heilserwartungen anlegen und uns damit permanent und im doppelten Sinne verrechnen. Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, hat Arthur Schopenhauer angemerkt: daß wir da sind, um glücklich zu sein. Angesichts dieser Meßlatte im Kopf kann gar nichts anderes als Katastrophengeschichte herauskommen. Das Untier macht folglich den bescheidenen Vorschlag, A Modest Proposal, es einmal ohne dieses Brett vor dem Kopf, ohne die eingebaute rosarote Brille von Happy-End-Erwartungen zu versuchen.

Und siehe da, mit den zugegebenermaßen etwas auf den Sehnerv gehenden ‚anthropofugalen‘ Kontaktlinsen, mit dem akustischen Entzerrer, der hinter dem ganzen Tohuwabohu das Gras wieder wachsen hört über den killing fields und Leichenbergen, ergibt sich ein ganz anderes und logisches Bild. Statt der Geschichte als einer Kette von Entgleisungen und Betriebsunfällen, als Beinhaus und Archiv unserer Irrtümer und Verranntheiten, als überdokumentiertes Mißtrauensvotum gegen Problemlösungsintelligenz und politisches Know-how konturiert ein Gegenbild aus, das unserem Sinnverlangen und unserer Selbstdefinition als vernunftbegabt viel eher entspricht.

Die Untier-Geschichte ist jetzt eine konsequente Folge von Probeläufen und Ertüchtigungsmanövern, eine der Doppelhelix unserer Erbsubstanz in nichts nachstehende vom Faustkeil bis zur Anti-Raketen-Rakete sich höher und höher emporwindende Rüstungsspirale. Als einprogrammiertes Ziel der äonenlangen Ertüchtigungen müssen wir einander nicht länger die meinetwegen vollelektronische Reparadisierung unseres Planeten vorlügen, sondern können die Verödung und Verwüstung als das Menschenmögliche, als jenes definitive Stilleben akzeptieren, das uns schon als arglistige Fallensteller und kaltschnäuzige Mammutschlächter umtrieb. Nichts liegt mit anderen Worten im argen; für keine Verirrung haben wir uns an die Brust zu schlagen. Das, wofür wir offensichtlich gemacht und auf der Welt sind, seit Homo sapiens auf die Beine kam, setzen wir unermüdlich ins Werk.

Als ich das Untier schrieb, hatte ich keine Ahnung – von einer noch weitergehenden Entlastungsgeschichte über die Geschichte, die 1876 veröffentlicht worden war und über die ich auch anschließend noch so lange hinwegsah und hinweglas, bis mich ihr Herausgeber Winfried Müller-Seyfarth mit der Nase darauf stieß: Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung. Möglicherweise habe ich diesen blinden Fleck meinem Überlebenstrieb zu verdanken gehabt, war Mainländer doch nicht davor zurückgeschreckt, einige druckfrische Exemplare der Erstausgabe aufzustapeln und angeseilt zu besteigen, ihnen danach einen gezielten Tritt zu versetzen und sich dergestalt für alle besserwisserische Kritik zu hoch zu hängen. Soweit wollte ich die Geistesverwandtschaft denn doch nicht treiben, obwohl ich mir inzwischen ganz sicher bin, daß Mainländer meine Kragenweite war und hatte.

Mainländers Vision von Naturgeschichte und Historie weist grundsätzliche Parallelen zu dem damals im Entstehen begriffenen physikalisch-kosmologischen Entropiekonzept auf, obwohl er noch ganz traditionsverhaftet in theologischen und philosophischen Kategorien denkt und argumentiert. Ausgangspunkt und einzige transzendentale Prämisse seines Systems ist ein Mainländer-Gott, also ein lebensmüder Höchster, über dessen Motivation er sich keine Vermutungen gestattet. Wie auch immer, der Allmächtige ist es leid und will sich durchstreichen. Das geht aber nicht, eben weil er allmächtig ist und Omnipotenz sich nicht Knall auf Fall dezisionistisch von der Allfülle ins Nichts verwandeln kann, ohne daß dabei das Nichts zu einem Teil der Totalität wird und der Gott, hast du nicht gesehen und gut christlich, aus dem Grab seiner Allmacht, das nur ein Grab in seiner Allmacht sein konnte, in alter Glorie aufersteht. Nur gegenüber seiner Omnipotenz, bringt Mainländer dieses postscholastische Paradox auf den Punkt, ist Gott nicht allmächtig.

Bleibt ihm kein Ausweg, als Demiurg, als pantheistischer Weltenschöpfer zu werden. Der Gott der Bibel agiert als Kraftmeier, er kann kaum an sich halten, setzt in atemberaubendem Tempo seine Potenzen frei und Ideen um. Mainländers Ins-Dasein-Rufer ist ein Erschöpfter, ein Überdrüssiger, der sich, durch seine Allmacht am sofortigen Abtreten gehindert, in einen kosmischen Schredder ein- und umbaut und sich nach dem Entropie-Prinzip unaufhaltsam zunehmender Unordnung selbst zerkleinert und zerlegt. Nach dem Urknall seines Nein, nicht eines weltverliebten Ja, erodiert er so über Jahrmilliarden seine Ewigkeit, zu der er verdammt schien, in den kosmischen Staub.

Evolutionär perfektioniert er dabei die Subsysteme der Gesamtapparatur, bis er schließlich – und genau hier kippt Natur- in Gattungsgeschichte um – bei der Krone seiner Schöpfung, dem mit Abstand effektivsten Unordnungsstifter und Entropievermehrer, angekommen ist, an dem er Wohlgefallen hat und der seit Philipp Mainländer davon weiß. Beruhigenderweise, denn es ging uns wohl schon länger im Kopf herum, daß wir als Friedensengel eklatant fehlbesetzt sind und auch als von Natur aus Ökophile und Karitative erbärmliche Karikaturen abgeben.

Wieder ein weltweiter, ein globaler Seufzer der Erleichterung, so stürmisch und vehement, daß uns dabei schier die Haare zu Berge stehen wollen. Wir, die Sterbehelfer Gottes, dürfen uns selbst und unserer Fleischwolfgeschichte die Absolution erteilen. Wir handeln nicht falsch, wir machen alles richtig, denn es können gar nicht genug Reibereien und Reibeflächen in der Welt sein. Ja, sogar die Selbstlosen, Sanftmütigen und Herzensguten arbeiten letztendlich nicht im Weinberg, sondern in der Walkmühle des Herrn, deren Hackmaschinen und Schlitzmesserkränze gegenläufig einfach besser funktionieren. Oder im O-Ton von Mainländers Philosophie der Erlösung:

Ja, was ist denn eigentlich auf dem allerhöchsten Standpunkte der Philosophie […] ein Mensch, den wir einen boshaften Teufel nennen? Was will er? Er will genau daßelbe, was der Heilige will: Nichtsein. Nur ist ihm dieses Ziel verhüllt und das Leben ist ihm Mittel und Zweck zugleich, während es sich vor dem klaren Auge des Philosophen lediglich als Mittel darstellt. Je heftiger das Leben gewollt wird, desto früher wird die Kraft abgetötet und das Nichtsein errungen. […] Gott kann nur durch Satan, durch den wilden Kampf der Individuen, das erlangen, was wer will: das Nichtsein. Das sogenannte Böse, die Sünde, entspringt derselben Wirkung, der das sogenannte Gute, die Tugend entspringt.

Solchen amoralischen Rundumschlägen nachspürend auf dem Trommelfell marschieren wir Landsknechte wieder los, brechen auf zum dritten und letzten Mal, trampeln querbeet durchs Kultivierte, über die weiten Felder von Anstand und Sitte, wo uns doch nur der Hafer sticht, schiffen uns ein. Zielzeit: 30er Jahre; Zielort: Carmel-upon-the-Sea, Kalifornien. Auf dem Rasen vor dem aus Findlingen aufgeführten Steinhaus ein Holzschild mit der Aufschrift: „No visitors until 4 p.m.“ Wir sehen auf die Uhr. Gleich vier. Und fast überpünktlich wie jeden Tag tritt der Hausherr über die Schwelle, dreht das Schild um und verschwindet wieder hinter der Tür. „Not at home“ steht jetzt zu lesen.

Wir wissen es besser, arbeiten uns trotzdem vor. Keine Klingel, denn der Dichter Robinson Jeffers ist zwar schon lange begeisterter Automobilist, die Elektrifizierung seines Haushaltes aber schiebt er bis in die Nachkriegsjahre auf. Vielleicht weil es innendrin ohnehin funkt nach Strich und Faden und sich blitzend entlädt in nicht gerade menschenfreundlich pointierter Gedankenlyrik und blutrünstigen Langgedichten, in denen die Flamme der Leidenschaft in den prospektblauen Himmel leckt, Inzest die Familien zerreißt und die Toten zurückkehren wie überhaupt alle grelleren Versatzstücke der attischen Tragödie. Im Gegensatz zu seinen Altersgenossen Ezra Pound oder William Carlos Williams ist Jeffers heute wenig mehr als ein literaturgeschichtlicher Wiedergänger und mir aus naheliegenden Gründen besonders sympathisch. Hier beschwöre ich ihn allerdings deshalb herauf, weil seine Geschichte über Geschichte – insbesondere für Kunstliebhaber und schöne Seelen – bei weitem die tröstlichste ist.

Jeffers setzt dabei nicht auf Notlügen und Ammenmärchen. Wie bei Mainländer, wie im Untier hat Historie auch für ihn keine anthropozentrische Ausrichtung, kein humanes oder humanistisches Telos. Sie bricht über unsereinen herein, sie rollt über uns hinweg, sie macht kopflos, weil sich ihr Sinn und Zweck dem nabelzentrierten Tunnelblick des Individuums entzieht. Was zwischen unseren kognitiven Scheuklappen auftaucht, da ist Jeffers von rücksichtsloser Direktheit, hat in der Regel eher den Anschein eines seiner eigenen Überbietungslogik verfallenen Alptraums als die Qualitäten eines von Bildstörungen heimgesuchten Fortbildungsprogramms. Und weil nicht ein wohlwollender Gott, sondern die Dämonen Regie führen, genau deshalb, flüstert uns Jeffers ein, ist kunstvolle Sabotage möglich.

Kunst kann nämlich, wenn sie sich anstrengt, nicht nur Menschen fesseln, sie kann mit ihren Bildern, Geschichten und Klangskulpturen auch böse Geister in den Bann schlagen. Wenn wir nicht wollen, daß die Dämonen sich über uns und auf unsere Kosten in unserer Geschichte austoben, dann müssen wir ihnen faszinierende Alternativen bieten, Spektakel, die so hochkonzentriert und unwiderstehlich sind, daß die auch im Bösen immer subideale, schwammige, schlammige, breizähe und verklumpte Wirklichkeit dagegen als zweite Wahl erscheint. Deshalb hat Jeffers in Kalifornien archaische Leidenschaften entfesselt und Mensch und Tier auf dem Papier in grauenhafte Untergänge getrieben, und deshalb dürfen wir nicht ablassen, Kunstwerke in die Welt zu setzen, die sich einbrennen, weil jedes von ihnen die dämonische Lust auf wie immer halb-, dreiviertel- oder ganz verpfuschte reale Infernos zumindest dämpft. Wenn ich zum Schluß ein Hegelsches Andenken auspacken darf, das ich habe mitgehen lassen, so möchte ich Ihnen folgenden Dreisatz zumuten. Die Kunst vor und im Ersten Weltkrieg war bis auf wenige Ausnahmen sein Zuhälter. Den Zweiten wollte sie, sich politisierend, verhindern. Den Dritten aber hat sie in einer multimedialen apokalyptischen Auslöschungsorgie, mit einem für ein Millionenpublikum erschwinglichen Shuttle-Service ins Land Menschenleer überboten. Für die Dämonen in und außer uns war er schon altes Geld, bevor sich das letzte Silo bestücken ließ. Deshalb brauchte er nicht mehr stattzufinden.

Grund zur Entwarnung kann das nicht sein, insbesondere wenn noch mehr Landsknechte wie ich die Waffen strecken. Eine wildentschlossene Realpolitik schläft nicht. Als Veteran pflege ich ein letztes Hirngespenst, zivil geworden sage ich es lauthals, nein, posaune ich es gegen den Abrüstungstrend und die grassierende Erschlaffung heraus: Was wir brauchen, ist die Einführung der allgemeinen literarischen Wehrpflicht.

Vortrag, gehalten im Juni 2004 an der Münchener Hochschule für Philosophie beim Symposium: „Wie frei ist der Mensch zwischen Schicksal und Selbstbestimmung?“