Hai Teck und Kabel-Jau Eine Computerschelte. (1997)
In meinem Leben spielt der Computer keine Rolle. Wir koexistieren sozusagen binär, er mit seinem geschlitzten Plastik-Harnisch in Hochglanzanzeigen und ich hinter der ausgestreckten Zunge, die den Finger anfeuchtet, mit dem ich umblättere. Wie man hört, hat ihn der Hai Teck, diese verhaltensgestörte Wiedergeburt des Butt, irgendwo in Kalifornien an Land gesetzt, und zwar auf Bitten von Halbstarken, die sich dort in Garagen an Transistoren vergingen. Daß den pickligen Spätpubertierenden damit auf den Pfad der Tugend, d.h. des Geldverdienens, zurückgeholfen wurde, stand bald für das ganze Silicon Valley außer Frage. So konnten die Löter der ersten Stunde ihren Fortpflanzungstrieb jetzt unter dem anhaltenden Beifall der Öffentlichkeit ausleben. Ihre Computer vermehrten sich wie die Karnickel, Generation hetzte Generation, und Zähne und Biß wuchsen so gewaltig, daß im Fachjargon das Bißchen – „bit“ – bald gegen das schon rein optisch tiefer im Zahnfleisch verwurzelte „byte“ und dieses wiederum gegen das zwei- und dreiwurzelige „mega-“ bzw. „gigabyte“ ausgetauscht werden mußte.
Aber schenken wir uns die Interna, bevor sich ein Experte einmischt und uns erklärt, daß ein Karnickel zwar ein Datenverarbeitungssystem ist, aber ein Datenverarbeitungssystem deshalb noch lange kein Karnickel. Übrigens eine leicht durchschaubare Verunglimpfung dieser appetitlichen, aus einer fein abgewogenen Mischung von Fleisch und Blut bestehenden Kreatur. Denn was hat die EDV demgegenüber zu bieten? Ein unappetitliches, ein heilloses Durcheinander von Hard- und Software, von programmatischen Weichteilen und maschinellen Härtefällen, die hinten und vorne nicht miteinander auskommen und uns zum Dank für das Verkuppeln noch Zungenbrecher wie ‚Kompatibilitätsproblematik‘ in den Mund legen.
Zwei Welten, Koexistenz, Nichteinmischung und strikte Binarität, so war der Stand der Dinge. Sollen sie ihren neuen Heiligen Gral unter die Leute bringen, solange der Plastikkelch an mir vorübergeht! Sollen sie vor der elektronischen Bundeslade, in der es scharrt, raschelt, kratzt, als wühle sich ein Irrer durch Myriaden verdorrter Hirnzellen, auf die Knie sinken, solange ich mich nach dem Buch in der obersten Regaletage recken darf! Mögen weiße, graue, blaue Mäuse sie umklicken, bis ihnen die Sinne schwinden, solange niemand, der eine Leseratte bleiben will, dafür angegiftet wird.
Nur kann kein Kugelkopf, dessen Bequemlichkeitsbedarf von der Korrekturtaste bis weit ins 21. Jahrhundert hinein gedeckt ist, in Frieden leben, wenn es seinem digitalen Nachbarn nicht gefällt. Der aber hat das ganzjährig weihnachtliche Weltbild, mit dem er im globalen Dorf hausieren geht, nach dem Prinzip des Adventskalenders aufgerüstet. Und seit jeder mit Windows so viele Kläppchen aufmachen darf, wie er lustig ist, wächst die Anhängerschar des PC unaufhaltsam auf Kreuzzugsstärke an. Die Zwangsbekehrung der Ungläubigen und Verstockten im Zeichen des Joystick und Trackball liegt in der Luft, was sage ich, im Cyberspace. Interaktiv werden lautet das fromme Gelübde, mit dem die Offensive eröffnet wird, an deren Ende es keine unprogrammierten Dickschädel mehr geben soll. Und ein Netz der Netze ist in schöner Erinnerung an die Apostelgeschichte auch schon ausgeworfen, um die Abermillionen kleiner Fische zusammenzubringen, die sich der Hai Teck als bescheidenes Menü für seine menschheitsbeglückenden guten Gaben ausbedungen hat.
Da demnach die feuchte Zunge, die früher das muntere Umschlagen von leeren Versprechungen in lohnende Lektüre gewährleistete, nicht mehr ausreicht, müssen wir Heiden des Informationszeitalters nunmehr die scharfe bemühen und vorelektronisch Fraktur reden. Beginnen wir dabei mit der sportiven Metaphorik der Flat-, pardon, der Onliner, tasten wir uns dann zu den Kürzeln, d.h. dem Kirchenlatein der Computerfürchtigen vor und überprüfen wir zum Schluß die Transsubstantiationslehre, die Wissen aus Information hervorzaubert wie Karnickel aus dem Zylinder. Nur fachsimpeln wollen wir dabei nicht, weil uns das schlichte Gemüt abgeht, das der zweite Bestandteil dieses Tätigkeitsworts bei den Gesprächsteilnehmern so nachdrücklich einfordert.
In der virtuellen Realität ihres Wunschdenkens haben sich die Chip-Jünger oder Kabel-Jaue nach Kräften adonisiert. Aus den hoffnungslos verfetteten Garagenhockern, mit denen sich nicht einmal ein japanischer Kleinwagen eingelassen hätte, aus den ungewaschen und ungekämmt in den geheimen Datenspeichern des Pentagon, zwischen den diskreten Kontobewegungen der Großbanken herumlungernden Hackern sind sonnengebräunte, durchtrainierte Muskelpakete geworden, California Dream Men, die auf dem Internet um den Globus surfen. Die märchenhafte Verwandlung in einen dieser gischtumsprühten Wellenreiter garantiert die Computerindustrie nunmehr jedermann, gegen den lächerlichen Obolus von ein paar Tausendern für das Plastikbrett und den monatlichen Zehnten für die Online-Dienste, die ihre Kunden, je öfter, je lieber, zu Wasser und zur Ader lassen.
Was hielten die Sportsfreunde in der klitschnassen Wirklichkeit von einem Surfer, der den Stränden und Küsten den Rücken kehrt und geradewegs aufs offene Meer zuhält? Sie würden die Köpfe schütteln und Schlimmes vorhersagen: Durst, Erschöpfung, Halluzination und Tod. Im Internet, auf dem Ozean der Information, aber gehört dieses wahnwitzige Verhalten zum guten Ton, und zwar deshalb, weil der User den Tod nicht fürchten muß und die Halluzination sucht. Sein spukhaftes Alter ego, dieser kosmopolitische Irrwisch, der sich aus Harsewinkel in eine amerikanische Search-Engine einloggt, die ihn ihrerseits ins WebMuseum, Paris, katapultiert, ist schließlich nur eine Computer-Konfiguration, die nicht leben und deshalb auch nicht sterben kann. Trotzdem investiert der Kunde Zeit und Geld in das Phantasma, weil es weitere heckt und schöne Träume macht. Den von der weltumspannenden Kommunikationsgemeinschaft etwa, die sich bei näherem Hinsehen in E-mail-Gestöber, Kommerz und schwatzhafte Klüngel auflöst. Oder den Traum von der Macht, die einem mit jedem Laptop in den Schoß fällt und aus der man doch immer nur abstürzt in die Computerspiele. Oder die Vision von der Allgegenwart an den Knotenpunkten des World Wide Web, die den Vernetzten und Umgarnten vor dem Monitor anwachsen läßt und in die Duldungsstarre zwingt, während sich die virtuelle Weltreise als neue Variante des alten Zapping entpuppt.
Der zwischen den Kanälen hin und her schaltende angeödete Fernsehzuschauer redet sich nicht mehr ein, daß er surft, weil er weiß, daß er dümpelt. Kein Videoclip hat das saure Aufstoßen des Realitätssinns auf Dauer unterbinden können; keine noch so einladend gestaltete Homepage wird uns in fünf Jahren noch vorgaukeln, daß wir auf der Innen- und nicht auf der Außenseite des Bildschirms zu Hause wären. Dann aber beklage sich niemand, er sei hintergangen worden. Der Hyperlink nämlich verkündet jetzt schon in aller Offenheit, wie er mit denen umspringt, die auf ihn setzen: Sie werden ohne Ausnahme hypergelinkt.
Wir sind beim verräterischen Jargon der Hai Teck-Priester angekommen, bei den Plappermäulern, die in den Ablaßbuden der Computer-Shops ihr Unwesen treiben, beim Kirchenlatein der Anzeigen und Sonderangebote. Aber weshalb sich einwickeln lassen? Für jeden, dem es nicht schon nach dem ersten Reizwort in den Ohren klingelt und dem die rosarote Cyberspace-Brille immer noch wie von selbst von der Nase rutscht, ist die Imponier- und Kürzelrhetorik der Gemeindemitglieder leicht zu durchschauen.
Schon die häufigsten Abkürzungen beim Online-Chat beispielsweise sind viel aussagekräftiger, als ihren Benutzern lieb ist. BNFSCD (But Now For Something Completely Different), DSH (Desperately Seeking Help) und OT (Off Topic) buchstabieren in unfreiwilliger Selbstoffenbarung vor, was die Beteiligten zusammenbringt: Zerstreuungssucht, Hilflosigkeit sowie die Chance, aus der Anonymität des Users heraus andere Zerstreuungssüchtige und Hilflose zu maßregeln. Und auch die beiden Oberkürzel, die hintereinandergeschaItet das INRI der Branche ergeben, zeigen diese Janusköpfigkeit. PC hat seine zwei Lesarten: die elektronische des Personal Computer und die ideologische der Political Correctness. Mehr als eine böse Ahnung spricht dafür, daß sie hinterrücks miteinander vernetzt sind. Und ganz ähnlich möchte sich die VR als Virtual Reality möglichst bald in eine globale VR als Volksrepublik verwandeln, in den real existierenden Virtualismus samt Archipel Gulag in Cyberia.
Bleibt als dritter und letzter Popanz das Evangelium des weltweiten ungehinderten Informationszugriffs, das auf der unzulässigen Gleichsetzung, um nicht zu sagen Gleichschaltung, von Information und Wissen beruht. Noch einmal geht es um begriffliche Trennschärfe. Ein Computer ist kein Karnickel, haben wir gleich eingangs einsehen müssen. Aber Information braucht doch Hasenfüße und eine heraushängende Zunge. Wissen dagegen gleicht dem Igel. Der sieht dem sich abhetzenden Informationssammler zu, der durch die Furchen seiner CD-ROM, durch die weltweiten Kraut- und Rübenäcker der Server und Online-Dienste fegt wie ein geölter Blitz; und wenn dieses Nervenbündel mit dem, was es unterwegs aufgeklaubt hat, atemlos auf die Ziellinie zustolpert, dann richtet sich der Stachelhäuter offline auf und verkündet: „Ick bün all hier!“
Wissen ist kein Sammelsurium und keine postmoderne Nummernrevue. Es zu erwerben setzt den Willen und die Fähigkeit voraus, Beiläufiges, Überflüssiges, Mißlungenes auszusondern und nicht zur Kenntnis zu nehmen. Unsere Kultur stellt sich in diesem Sinne als ein gigantischer Filter dar, der die Flut des von allen Seiten auf uns Eindringenden zurückstaut und nur das durchsickern läßt, was sich für Gegenwart und Zukunft als wesentlich erweist. Diese seit Menschengedenken existierende und funktionierende kollektive Kläranlage soll nun ausgeschaltet bzw. durch das Internet überboten werden. Aber ein Netz filtert nicht. Es setzt uns der ungeklärten Informationsbrühe aus, die Zehntausende, Hunderttausende, Millionen von Einspeisern absondern.
In diese ozeanische Senkgrube mag abtauchen, auf ihr mag surfen, wer will. Ich bleibe jenseits des Dunstkreises auf dem Gutenberg und feuchte einen Finger an. So stellt man ganz ohne Wettersatellit und Rechenzentrum fest, woher der Wind weht – und wann er umspringt.
In: Spiegel Spezial, 01.03.1997.