Apus apus

Jack London und Philip Larkin haben es vorgemacht: Wer als Literat auf sich hält, schafft sich beizeiten ein Totemtier an.

 

Der Läufer passiert den unbeschrankten Bahnübergang. Das erste Bauernhaus versteckt sich noch hinter einer Bauminsel. Schweinemast. Die ausgespülten Fäkalien stauen in einem offenen Graben. an bedeckten Sommertagen flitzen hier die Schwalben zentimeterdicht über den Boden. Der Mann erinnert sich für einen Augenblick der auf- und niederfahrenden Körper, der lässigen Wendemanöver vor seinen ausschwingenden Beinen, der unbegründeten Befürchtung, die Tiere könnten sich bei einer Kollision verletzen. Zwanzig, dreißig Schritte gehörte man zusammen. Die Schwalben wie verspielt und weit um ihren Herrn kreisende junge Hunde.

Aus: Steintals Vandalenpark. Erzählung. Siegen 1981.

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Die Wahrheit wechselt mit den Jahreszeiten. Was für den Winter taugt, zerfließt und versichert unter der Frühlingssonne. Und dann kommt es zurück und nistet wieder: das große Einverständnis, die Sommertheodizee auf Schwalbenflügeln.

Das Gedankenspiel fordert reifliche Überlegung. Aber gesetzt den Fall, man könnte eine einzige Tiergattung vom Untergang ausnehmen, welche könnte sich ernsthaft um dieses Privileg bewerben – mit Ausnahme vielleicht der Schwalben.

Trüge man mir auf, eine neue Mythologie zu entwerfen, ich würde die Testgruppe glauben machen, nach dem Tode lebten die Seelen der Elendesten und Erniedrigsten unter ihnen – aber nur sie – noch eine Handvoll Jahre als Segler fort. Damit aber Verheißung und Trost nicht überhandnähme auf Erden, wiese ich auf die am Himmel auf- und niederfahrenden Vögel und spräche also: „Die die Elendesten waren, sind für ein Schwalbenleben die Glücklichsten geworden. Und doch – hört, hört ihre Schreie.“

Aus: Hirnschlag. Aphorismen – Abtestate – Berserkasmen. Göttingen 1984.

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Zu unverhofft für eine Metapher wie die Abendsonne auf den Flügelunterseiten der Mauersegler.

Die Schlichtheit der Könner: Ein Mauersegler dreht keinen Looping, dafür fliegt er im Gewitter.

Die Mauersegler und ihre freischwebende Existenz. Bestimmt merken sie kaum, wie sich der Globus zweimal im Jahr unter ihnen vorbeidreht.

Mauersegler sind der einzige Luxus, den sich die Fliegen erlauben.

Aus: Infernodrom. Programm-Mittschnitte aus dreizehn Jahren. Paderborn 1994.

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Erscheinung Mitte September
(für M.S.)

Heruntergekommen
fliegt er jetzt unter Brücken,
kreuzt handbreit über der Lahn.
Seinesgleichen ist seit Wochen
außer Landes, also hält er sich
an zwei Dutzend vertrödelte Schwalben.
Massig zwischen den Fliegengewichten,
zu groß für die verengten Tage,
jagt er ihm nach,
dem Grund für sein eigenes Zurückgebliebensein.
Auch er ein muskelbepackter Schatten
zum Greifen nah
über den Steinen
am Wasserspiegel.

Aus: Altstadt mit Skins. Gedichte. Paderborn 1995.

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Ein Wesen läßt sich nicht wegdenken. Denn im schlimmsten Fall ist die Welt ein vorbeiflirrendes Phantasma und der Mensch eine Eintagsfliege, womit alles das im Überfluß vorhanden wäre, was ein Mauersegler zum Leben braucht.

Über ihm die Dachrinne, unter ihm die Straßenschlucht. Ein Leben auf der Kippe. Er hält es nicht mehr aus in der wohlversorgten Enge, in der er von seinen Erzeugern vollgestopft und warmgehalten wird. Tagelang hat er ihnen schon hinterherspioniert, wenn sie von ihm fortrutschten und sich, wie von einem Zauberstab angerührt, in etwas verwandelten, das allem hier, der Dunkelheit, dem Kotgestank, entglitt, das weitausholende, blitzende Bewegungen vollführte, zu denen er niemals fähig sein würde, das mit einem Schwall der Frische zurückkehrte, in dem er ohnmächtig für einen Atemzug gebadet hatte. Schon ist der Verzweiflung nicht mehr beizukommen. Er muß heraus. Er muß in diese andere Welt. Einen euphorischen Todessturz, einen Paroxysmus seiner verwachsenen Muskeln lang. Die mörderische Sehnsucht ist Übergewicht genug. Er kippt ab Panik reißt ihn auf schlägt über ihm zusammen er schlägt zurück in die Verzweiflung Leere das Sterbenmüssen kriegt er unter die Flügel drischt drischt drischt darauf ein, bis ihn das Bodenlose trägt, erhebt, bis die Regenreste in der Rinne, Zeugen einer schicksalsergebenen Fallsucht, ungläubig und voll hilfloser Gier zu dem plötzlich Unbeschwerten emporsperren.

Apus apus ist seit zwei Tagen überfällig, Hessen von allen guten Geistern verlassen. Ich stehe kurz davor, die Fliege zu machen.

Nach dem Sport, den Muskelkater schon zwischen den Schulterblättern, geht es nach Hause. Nur der Blick turnt noch weiter über Kopf in den blühenden Zierkirschen. Da driftet der erste quer durch die rosarote wolke, Heimkehrer wie ich, aber die Schwingen, auch noch unzähligen Flugstunden noch, blütenblattweich.

Auch der Gedankenflug kennt viele Stile: das preziöse Auf-der-Stelle-Flirren der Kolibris, das verhuschte Nicht-aus-den-Büschen-kommen von Zaunkönigen und Heckenbraunellen, die große Flatter der Tauben, das auf- und niederwogende Himmelsgeruder der Krähen, die pfeifende Majestät endlich abgehobener Schwäne. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, aber möchte icch über dem Eisblau des Hiommels schaulaufen können wie die Beschwingtesten aller Gleiter, die Mauersegler.

Mitten im Dezember wendet sich das Blatt. Gestern waren sie noch nicht achtzehn Wochen fort, heute lassen sie keine viereinhalb Monate mehr auf sich warten. Vor dem Zeigefinger, im niedergekommenen Himmel aus Pulverschnee beflügeln sich meine Totemtiere.
Aus: Einfallstor. Neue Aphorismen. Oldenburg 1998.

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Vogel des Jahres

Per Airmail
haben sie sich wieder abgeschickt
in der zweiten Portoklasse
– bis fünfzig Gramm –
Poststempel Lagos, Kampala, Liongwe
oder Lubumbashi, gemausertes Elisabethville.
Sieben-, acht-, neuntausend Meilen später
schlägt das federleichte Herz der Finsternis
über einem frühlingsfrischen Europa.
Wie die Pollenwolken von Haselnuß und Birke
wabert der Krill in den Lüften,
auftriebige Spinnen und Kleingetier,
schnabelgerecht serviert in noch zarter Kruste
statt der Sommerpanzer
aus unappetitlichem Chitin.
Das neue Hoch-
Turmhoch macht man wie immer Quartier
oder nistet sich ein unter dem Dachstuhl
weltoffener Altbauten.
Das neue Hochleistungs-
Über der Sahara gezeugt
oder im Emporblitzen
der letzten Firnfelder
unten auf Pyrenäenflanken,
legt es die Brut
– nonstop in Schale –
schon aufs Erscheinen an.
Das neue Hochleistungszentrum Vertrieb
hat rechtzeitig zum Eintreffen der Preisträger
die gesamte Produktpalette auf Lager:
T-Shirt Apus apus, Ökotext-Druck (€ 19,80)
Motivtasse Mauersegler, spülmaschinenfest (€ 9,98)
Mauersegler-CD in vier Sprachen (€ 19,80)
Mauerseglernistkasten aus Faserbeton, garantiert
astbestfrei (€ 54)
  Papierbastelbogenset Jahresvögel, nicht flugfähig (€ 9,98)
Lieferung mit Swift DLivery®
innerhalb von vierundzwanzig Stunden.
Ins nichteuropäische Ausland auf Wunsch
und nach Angabe der Kreditkartennummer
expiry date nicht vergessen –
auch per Luftfracht.

Aus: Picknick am Schlagfluß. Gedichte. Oldenburg 2005.