Abschreckungskunst. Zur Ehrenrettung der apokalyptischen Phantasie. (2012)

1. Einleitung: Vom ausgebliebenen Ende

Warum hat der Dritte Weltkrieg nicht stattgefunden? Es war doch alles bereit, die zuträglichsten Voraussetzungen schienen gegeben. Noch nicht zur Hälfte verstrichen, hatte das 20. Jahrhundert bereits als das mit Abstand blutigste der Menschheitsgeschichte zu gelten. Der Zweite Weltkrieg überbot dabei die Verlustbilanz seines Vorgängers mühelos um das Vier- oder Fünffache, und in den regional begrenzten Konflikten und Stellvertreterkriegen der zweiten Jahrhunderthälfte kamen, zurückhaltend geschätzt, noch einmal 25 Millionen Menschen ums Leben. Geld spielte von Anfang an keine Rolle. Wie Historiker nachkalkuliert haben, ließ sich der Generalstab der Mittelmächte von 1914 bis 1918 einen gegnerischen Gefallenen umgerechnet $ 11.345 kosten, während die Entente $ 36.485 aufwendete. Und doch nahm die massenmörderische Litanei, die Edlef Köppen in der Nachschrift zu seinem 1930 erschienenen und dann von den Nationalsozialisten verbotenen Roman Heeresbericht anstimmt, kein Ende. Das, was er zu Papier brachte, war nichts als ein Aufgesang:

Es fielen in den Jahren 14 bis18 : Einemillionachthundertundachttausendfünfhundertundfünfundvierzig Deutsche, Einemilliondreihundertvierundfünfzigtausend Franzosen, Neunhundertachttausenddreihundertundeinundvierzig Engländer, Sechshunderttausend Italiener, Einhundertundfünfzehntausend Belgier, Einhundertneunundfünfzigtausend Rumänen, Sechshundertneunzigtausend Serben, Fünfundsechzigtausend Bulgaren, Zweimillionenfünfhunderttausend Russen und Polen, Fünfundfünfzigtausendsechshundertachtzehn Amerikaner. Zusammen: Achtmillionenzweihundertfünfundfünfzigtausendfünfhundertvierunddreißig Menschen.

Das Ausschreiben der Anzahl der Ausgelöschten bleibt eine Geste ohnmächtiger Pietät. Sie richtet nichts aus. Später verlieren die Zahlenkolonnen auch noch ihre preußische Akkuratesse, entgleiten und entgleisen, weil die Zivilbevölkerung ins Spiel kommt oder, genauer, immer massenhafter aus dem Spiel genommen wird – eine demographische Variable, die das Durchzählen ohnehin nie gelernt hat. Die Planungsstäbe des postkonventionellen Krieges werden aus der sich breitmachenden Unüberschaubarkeit die Konsequenzen ziehen und sich mit scheinpräzisen Größenordnungen wie der von „megacorpses“ begnügen, von wo es dann nur noch ein kleiner Schritt ist in das gänzlich realitätsentlastete Reich der Dunkelziffern.

War Kriegstreiberei die Leidenschaft eines auch in dieser Hinsicht weitgehend homogenen Europa, so ist diese Mitgift nach der doppelten Selbstzerfleischung exportiert und an die beiden neuen Supermächte, die USA und die UdSSR, weitergereicht worden. Zwischen den Kühlschlangen des Kalten Krieges haben sich die Ex-Verbündeten fast zwei Generationen lang nach Kräften die Hölle heiß gemacht und sich gegenseitig in nukleare Geiselhaft genommen. Die am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Einsatz gelangte wahre ‚Wunderwaffe’ sorgte dabei für jenen singulären Rüstungsfanatismus, der sich bei der Fähigkeit, die gesamte gegnerische Bevölkerung vom Leben zum Tode zu befördern, nicht mehr beruhigen konnte, sondern sogenannte Overkill-Kapazitäten ansparte, um selbst den Zerstrahlten weitere Lichter über ihre wahlweise kapitalistische oder kommunistische Nichtigkeit aufzustecken. Interessanterweise kehrte in diesem Zusammenhang das Interesse an verläßlicher Buchführung zurück, wenn auch nicht gegenüber den Leidtragenden. Die Zuwachskurven der produzierten und in Dienst gestellten Sprengköpfe lassen sich mühelos abrufen; hier zum Beispiel das Intervall, in dem zumindest die numerische Führungsposition wechselte:

TABLE 2. US and Soviet missiles

                1963   1965   1967   1969   1971   1973   1975
US
ICBM       423     854    1,054  1,054  1,054  1,054  1,054
SLBM       224     496      656     656     656     656     656

Soviet
ICBM         90      224      570  1,028  1,513  1,527  1,618
SLBM       107     107      107     196     448     628     784

Der Rüstungswettlauf, der sehr schnell zu jenem Überangebot an Vernichtungskapazität führte, für das sich in US-Militärkreisen der Terminus „nuclear plenty“, also die atomare Hülle und Fülle, eingebürgert hat, machte natürlich bei der Aufaddierung von Trägersystemen und ihrer Bestückung nicht halt, sondern führte zur Megatonnen-Bulimie. Den Vogel schoß dabei eine russische Waffenschmiede ab, die 1961 eine Wasserstoffbombe mit der viertausendfachen Sprengkraft des Hiroshima-Typs produzierte – ein Gigantismus, der mit Winston Churchills Worten nur noch dazu taugte, die Trümmer tanzen zu lassen: „All they would do was to make the rubble bounce.“ Es war das aber wohl ein Bonmot des inzwischen in der Versenkung verschwundenen Literaturnobelpreisträgers von 1953 und weniger die Überzeugung des „Blood, Sweat, and Tears“-Realpolitikers, der zwei Jahre später und im Alter von einundachtzig die Herstellung einer durchaus bescheideneren britischen Wasserstoffbombe anordnete. Denn um die Orchestrierung von Totentänzen mit allen zu Gebote stehenden Pauken und Trompeten ging es doch gerade.

In Silos versenkte Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber, Atom-U-Boote, taktische und strategische Gefechtsköpfe, alles wurde regelmäßig gewartet, erneuert, einsatzfähig gehalten. Testexplosionen schickten derweil unmißverständliche Rauchzeichen gen Himmel. Manöver und Kriegsspiele simulierten den Ernstfall – „the practice of war games – it is estimated that fifty ‚nuclear wars’ take place daily“ – und hasteten hinter immer komplexeren Szenarien her wie der Hase hinter dem Igel. Der buddha-runde Experte Herman Kahn fabrizierte in On Thermonuclear War (1960) eine Eskalationsleiter mit so vielen Sprossen, daß schon ein Einzelkletterer ihren Fußangeleffekt zu spüren bekommen mußte, von aufstrebenden Rivalen ganz zu schweigen. Und dann war da noch die verläßliche bilaterale Krisenproduktion, das ständige Zündeln von Berlin-Blockade (1948/9) und „Cuban Missile Crisis“ (1962) bis zu der ‚angedachten’ nuklearen Option im Vietnam-Krieg und den Nachrüstungsbeschlüssen der NATO von 1979. Aber trotz all dieser sich ständig vermehrenden Risikofaktoren, trotz des nie auszuschließenden menschlichen Versagens und der nicht weniger gefährlichen, durch das Schwinden der Vorwarnzeiten erpreßten Automatisierung und Computerisierung von Entscheidungsprozessen, trotz eines möglicherweise im kollektiven Unbewußten verbunkerten Todeswunsches ist der die genozidale Kettenreaktion auslösende Knopf nie gedrückt worden. Wie – ich paraphrasiere die Eingangsfrage – kann und konnte das sein?

Drei Antworten kristallisieren sich heraus: eine religiöse, eine politische, eine militärische. Der ersten lassen wir schon deshalb den Vortritt, weil sie im Überirdischen angesiedelt ist und die in seine Geheimnisse Eingeweihten schon immer ein ganz besonderes Verhältnis zum Krieg hatten. Schließlich sorgten sie dafür, daß Gott verläßlich auf der richtigen Seite zu finden war, der eigenen nämlich, und daß eine bedingungslose metaphysische Loyalität für jeden an- und abrufbar blieb, der eine Waffe in die Hand nahm. Nach Lesart dieser Fraktion ist es allein jenem umschnallbaren Demiurgen – „Gott mit uns“ stand bekanntlich auf den Koppelschlössern des Kaiserreichs – zu verdanken, daß wir auch im 21. Jahrhundert noch Feldaltäre errichten können. So gern der Allmächtige mitmischte bei der Ausdünnung seiner Gemeinde, so energisch er der großflächigen Aufforstung von Kulturland mit Holzkreuzen Vorschub leistete, zog er vor dem Holozid doch eine klare Grenze. Immerhin stand er, der selbst schon einmal Tabula rasa gemacht hatte, bei den Überlebenden der Sintflut im Wort und hatte es ihnen im Alten Testament schriftlich gegeben: „Ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, wie ich es getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1 Mos. 8,21f.). Der Regenbogen, das Signum des Bundes und das Versöhnungszeichen mit einem menschlichen Herzen, dessen „Dichten“, so dieselbe Quelle, „böse ist von Jugend auf“, war tabu und durfte nicht von Menschenhand überstrahlt und zerblitzt werden. Eine zweite biblische Geschichte, die sich liest wie der Augenzeugenbericht eines zeitreisenden Halbnomaden über eine Nuklearexplosion, wirft zusätzliches Licht auf die Selbstverpflichtung eines Schöpfergottes, der sich angesichts der moralischen Belastbarkeit und Versuchungsresistenz seiner Geschöpfe keinen Illusionen mehr hingab. Die Zustände in Sodom und Gomorrha schreien zum Himmel. Der erzürnte Allmächtige aber reagiert nicht länger im Wolkenbruch-Affekt. Er läßt sich vielmehr von Abraham herunterhandeln. Fünfzig Gerechte, gesteht er zu, könnten ihn zur Rücknahme seines Zerstörungsentschlusses bewegen. Und danach geht es deeskalativ weiter: vierzig, dreißig, zwanzig – bis die Langmut Jehovas ausgetestet und ausgereizt ist: „Und [Abraham] sprach: Ach zürne nicht, Herr, daß ich nur noch einmal rede. Man möchte vielleicht zehn [Gerechte] darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen“ (1 Mos. 18,32). Da liegt seither die Latte. Und die Theologen würden im Umkehrschluß davon ausgehen, daß unter den sieben Milliarden Ebenbildern, zu denen die Menschheit inzwischen aufgegipfelt ist, dieses absolute Minimum zum Erhalt der göttlichen Duldungsstarre bislang offenbar nie unterschritten worden ist.

Die zwei anderen Erklärungsversuche machen die Verantwortlichen für die Fortdauer des bis an die Zähne bewaffneten Homo sapiens sapiens im Diesseits und in seinen eigenen Reihen aus. Die Politiker hätten die (Selbst-)Revokation der Gattung verhindert, sagen die Politiker. Experten in Sachen Selbstdarstellung und PR, verweisen sie dabei auf die Jahrzehnte der geduldigen Sondierungsgespräche, auf vertrauensbildende Maßnahmen, Konferenzserien, Kulturaustausch und das Wachsen wirtschaftlicher Verflechtung, kurz, auf die gesamte Klaviatur der Entspannungspolitik. Auf solchen diplomatischen Wegen, hört man, sei das Eis zwischen den Blöcken zum Schmelzen gebracht, die Konfrontation hinter der theatralischen Drohkulisse Schritt für Schritt abgebaut worden. Und selbst eingefleischte Skeptiker müßten sich etwa durch folgende Auflistung der Verhandlungserfolge eines Besseren belehren lassen:

1963 Partial Nuclear Test Ban Treaty (PTBT)
1966 Latin American Nuclear Free Zone Treaty (Treaty of Tlatelolco)
1968 Treaty of the Non-proliferation of Nuclear Weapons (NPT)
1972 Biological Weapons Treaty (BW Convention)
1972 Accords resulting from US-Soviet Strategic Arms Limitations Talks […] (SALT-I)
1985 South Pacific Nuclear Free Zone Treaty (Treaty of Rarotonga)
1987 US-Soviet Treaty eliminating intermediate-range nuclear forces (INF Treaty)
1991 US-USSR Strategic Arms Reduction Treaty (START Treaty)
1993 Convention on the Prohibition of the Development, Production, and Use of Chemical Weapons and on their Destruction (CW Convention)

Aus dieser Sicht der Dinge stellte das durch den Zusammenbruch einer ökonomisch ausgepowerten wie machtpolitisch überanstrengten Sowjetunion besiegelte Ende der Konfrontation der beiden Supermächte keine Rettung in letzter Minute dar, keinen Deus-ex-machina-Effekt zur Spielzeitverlängerung eines Menschheitsdramas, bei dem der Vorhang zu fallen drohte. Vielmehr war präventiv und mit langem Atem Regie geführt worden, und zwar von Menschenhand.

Akzeptiert man den hier angemeldeten Primat der Politik, wird das Militär zum Apparat, seine Angehörigen zu Handlangern. Dagegen regt sich bei den Betroffenen Widerspruch, der naturgemäß lakonischer ausfällt als die Selbstdarstellung des höheren politischen Konfliktmanagements, aber auf dasselbe hinaus will: die Prämie des Lebensretters. Alle Verhandlungsbereitschaft, aller Annäherungswille wären zum Leerlauf verurteilt gewesen, so argumentiert die dritte Partei, wenn nicht das Militär für die Glaubwürdigkeit der wechselseitigen Vernichtungsdrohung gesorgt und das Gleichgewicht des Schreckens ein halbes Jahrhundert lang austariert hätte. Ob Erstschlagskapazität, zureichendes Vergeltungspotential oder „flexible response“, alle Um- und Neuformulierungen strategischer Konzepte besitzen den Beigeschmack des Bitterernsten, atmen den Geist einer kompromißlosen, ja roboterhaften Durchprogrammierung. „No nonsense“-Mentalitäten sitzen am Drücker, die, das weiß der Gegenspieler, auch dann noch heimzahlen werden, wenn Heimat und Feindesland gleichermaßen in Schutt und Asche gesunken sind und die unabwendbare Rache der ihrerseits Todgeweihten nur noch bereits Aufgeopferte ereilt. Macbeth war der erste Kalte Krieger, denn in Shakespeares Tragödie beklagt er sich darüber, daß früher auf die Toten als Tote Verlaß gewesen wäre: „When the brains were out, the man would die, / And there an end; but now, they rise again“ (III, iv, 78f.). Jetzt aber wehren sie sich wie damals im Königspalast selbst noch ‚entgeistert’ auf ballistischen Kurven – Pynchons gottverlassenem Gravity’s Rainbow –, und was detoniert, ist die ferngesteuerte Gegenwehr von Kadavern. Solche nie dagewesene und pikanterweise erneut meta-physische Konsequenz, unterstreichen die Veteranen der Planspiele, war der Friedensstifter und der Garant des guten Endes oder mit dem Resümee des Militärhistorikers Martin Van Creveld: „Though other factors were also involved, the lion’s part in bringing about this happy outcome was played by nuclear weapons and the balance of terror they created; rest thou in peace, post-1945 world.”

Wer hat recht? Die sich auf die Schulter klopfenden Politiker und Diplomaten, die auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs spiegelsymmetrisch manövrierenden Uniformierten oder die Gläubigen, die allen Grund sehen, vor ihrem langmütigen Gott auf die Knie zu sinken? Ich will keinen Streit, und die Welt geht nicht unter, wenn man mal dieser, mal jener Partei zunickt. Mir liegt etwas anderes am Herzen. Ich möchte eine weitere und bisher sträflich übergangene Minderheit zur Belobigung vortreten lassen: die Künstler. Oder nein, lieber noch als eine weitere Berufsgruppe will ich eine einzigartige menschliche Fähigkeit ordentlich auszeichnen, die Einbildungskraft nämlich, und zwar in ihrer katastrophilen, untergangsfixierten Spielart.

Was drängt mich dazu? Zur Beantwortung dieser Frage muß man ausholen. Wir lernen durch – oft genug leidvolle – Erfahrung. Da wir aber nicht alles am eigenen Leibe ausprobieren können, lernen wir auch von anderen, die gleichsam stellvertretend agieren und in deren Erlebniswelt wir uns über Phantasie und Einbildungskraft hineinversetzen können, um so ihren Erfahrungsschatz zu teilen. Besonders angenehm ist diese indirekte Methode des Wissenserwerbs, wenn es sich um strapaziöse, risikobefrachtete oder gar lebensgefährliche Lernprozesse handelt. Über die Schwerkraft aufgeklärt zu werden, indem man in jungen Jahren die Treppe herunterpurzelt, oder die engen Grenzen unserer thermischen Belastbarkeit zu entdecken, nachdem die Fingerkuppen mit einer Herdplatte in Berührung gekommen sind, mag ja noch angehen; doch die Folgen eines Fahrfehlers im Straßenverkehr und die Funktionsweise der dadurch aktivierten Massenträgheitskräfte studiert jeder gewiß lieber am Krankenbett eines Arbeitskollegen, als den Grundkurs in Unfallphysik blaubeflackert und auf dem Weg in die Unfallchirurgie selbst zu absolvieren. Ja, es gibt sogar Erfahrungen, die nur substitutiv zu machen sind, weil sie – so die eindeutige Redewendung – mit dem Leben bezahlt werden müssen. Sie setzen eine in der Regel unfreiwillige Aufopferung voraus, und ihr ‚Ertrag’ ist dann verloren, wenn das Opfer seine ‚Lernerfolge’ mit ins Grab nimmt. Nur die Einbildungskraft kann die zerrissene Verbindung zu den (Über-)Lebenden wiederherstellen, so daß ihnen das Geschehene eine Lehre sein wird. In diese Kategorie gehören ganz unterschiedliche Phänomene wie die Verzweiflungstat und die radikale Prinzipientreue, jede ‚Krankheit zum Tode’ und manche scheinbar harmlos und schleichend beginnende seelische Krise.

Wenn wir den individuellen Erfahrungsraum verlassen und zu kollektiven Lern- und Erinnerungsprozessen übergehen, liegen die Parallelen auf der Hand. Auch Gruppen handeln, lernen die Lektionen, die ihnen eine widerständige Wirklichkeit erteilt und geben ihre Lebensklugheit an die folgenden Generationen weiter. Geregelter Erfahrungsaustausch mit anderen Kollektiven heißt Kultur und garantiert die Absorption von Fremdwissen, was wie in der Renaissance zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung des eigenen Weltbilds führen kann. Über die zentrale Rolle der Imagination bei dieser extrem vielschichtigen Kognitionsosmose braucht man kein Wort zu verlieren. Es gibt jedoch auch grundsätzliche Asymmetrien zwischen Erfahrungserwerb und -verarbeitung von Einzelpersonen und denen von Verbänden. Besonders auffällig ist die Lerngeschwindigkeit, die sich umgekehrt proportional zur Gruppengröße zu verhalten scheint und bei Staaten und Nationen einen enervierenden Tiefpunkt erreichen kann, so daß sich Zeitgenossen der Eindruck des Auf-der-Stelle-Tretens und der dumpfen Unbelehrbarkeit aufdrängt. Eine anscheinend unbezähmbare Aggressivität und immer wieder aufflammende Bereitschaft zu Gewalt und Gemetzel sind Musterbeispiele für diesen ernüchternden Befund. Der zweite Unterschied tritt bei dem letalen Lehrgeld auf, das, wie erwähnt, für Orientierungswissen in physischen und psychischen Grenzbereichen und Extremzonen fällig werden kann. Dabei ist es so, daß explorierende Gruppenmitglieder ihren Vorstoß möglicherweise mit dem Leben bezahlen, das observierende Kollektiv aber von dem Unfall bzw. der Tragödie profitiert. Das Opfer, heißt es dann, war nicht umsonst. Wer dazu Anschauungsmaterial wünscht, sei an die verunglückten Flugpioniere aus den Kindertagen der Luftfahrt oder an die doppelte Nobelpreisträgerin Marie Curie erinnert, die aufgrund des ständigen Umgangs mit radioaktivem Material – wie ihre Tochter – an Leukämie erkrankte und starb. Legenden und Mythen sind die Grabkränze, und in Ausnahmefällen wie dem des Polarforschers Scott und seiner Männer werden sie bis heute geflochten.

Immer aber gab es nach einem meist kurzen Intervall im Wortsinn sensationeller, d.h. weithin empfundener und artikulierter Trauer Grund zur Beruhigung und Zuversicht, denn die Gemeinschaft konnte das, was der Betroffene nicht mehr fertigbrachte: einen letztendlich zweckdienlichen Tod verschmerzen. Dieser Automatismus ist erstaunlich robust, kommt allerdings an seine Belastungsgrenze, wenn die Zahl der Geopferten aus dem Promille- in den Prozentbereich einer Bevölkerung steigt. Das war im Ersten Weltkrieg mit seinen Millionenverlusten der Fall. Diese Toten wurden entindividualisiert bis zur körperlichen Nichtwiederauffindbarkeit und hatten alle die nämlichen Extremerfahrungen machen müssen. Wozu? Hätten tausend, zehntausend, in Gottes Namen hunderttausend Zerschossene und Zersprengte denn nicht genügt, um der nach wie vor kompakten Majorität klarzumachen, was totaler Krieg und die Industrialisierung des Todes bedeutete und daß mörderische Leitbegriffe wie Vaterlandsliebe und Heldenmut so sorgsam entschärft werden mußten wie ein Blindgänger neben der Stellung? Offenbar nicht. Die Einbildungskraft stand plötzlich vor einer Sisyphusaufgabe, die sie denn auch anfänglich gelähmt hat. Sie sollte aus der Sinnlosigkeit des ‚Verheizens’, diesem maschinengewehrhaften Herausrattern immer horrenderer Verlustzahlen auf allen Seiten, verantwortbare Schlüsse ziehen und das Schlacht- in ein Lernfeld verwandeln. Dazu war ein Deutungsathletismus vonnöten, der, wie wir später im einzelnen darzulegen haben, ein Über-sich-Hinauswachsen und einen mentalen Quantensprung voraussetzte.

Ein Ereignis, das den zeitgenössischen Erwartungs- und Vorstellungshorizont so radikal durchbricht wie der Erste Weltkrieg, imaginativ einzuholen und für Zivilisten wie Ex-Kom-battanten faßbar zu machen, war also eine immense Herausforderung an die Adresse der Literatur und Kunst. Aber damit nicht genug. Die Retrospektive hätte angesichts des heraufziehenden Zweiten Weltkriegs fast gleichzeitig einen prospektiven Abwehrzauber entfalten müssen. Diese Doppelbelastung erwies sich jedoch als untragbar, und die anachronistischen Kriegsbilder entfalteten noch einmal ihre fatale Verführungskraft. Ungeachtet des Rückschlags ging es nach 1945 und den grellen Fanalen über zwei japanischen Großstädten noch einmal um mehr, ja, zum ersten Mal um alles. Der nächste globale Waffengang, das zeichnete sich immer unabweislicher ab, würde den Horizont des Vorstellbaren nicht mehr nur sprengen, er würde ihn abschaffen und das kollektive Lernen aus bitteren Erfahrungen gleich mit. Die sichere Grundlage aller bisherigen Gattungsexistenz stand vor dem Ausgehebeltwerden, die Gewißheit nämlich, daß auch nach der größten Katastrophe immer noch genügend Überlebende übrigbleiben würden, um von ihr zu erzählen und die richtigen Schlüsse aus der Heimsuchung zu ziehen. Im Gegensatz dazu würde der Dritte Weltkrieg nach seinem Ausbruch kein Nach-Denken, keinen zerknirschten Wiederaufbau der Zivilisation mehr gestatten. Und kein Gott, kein Politiker, kein Militär und kein Künstler würden die Totenstille stören, um sich nun, da alle dies- und jenseitigen Sicherungen durchgebrannt waren, gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben. Nein, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es ums Ganze. Die Szenarien der apokalyptischen Phantasie mußten jetzt noch schmerzhafter sein als die grauenhaften De-facto-Erfahrungen, die insbesondere die Europäer in den ersten fünf Jahrzehnten gesammelt hatten, und sie mußten vor allem den Typus des machtbewußten und machthungrigen ungläubigen Thomas abschrecken, der seit je so gern die Probe aufs Exempel gemacht hat. Wie standen 1960 unsere Chancen? Neun zu eins, neunundneunzig zu eins für das Hitzefrei nach dem Kalten Krieg? Oder noch schlechter? Die „Doomsday Clock“ der Zeitschrift Bulletin of Atomic Scientists pendelte, man wird sich erinnern, jahrelang um zehn vor zwölf und rückte 1984 bis auf drei Minuten vor Mitternacht. Wir haben Glück gehabt, fürwahr. Wir haben das große Los gezogen aus einer Trommel verstrahlter Nieten. Aber wir hatten auch einen alle Kräfte mobiliserenden Allierten: die apokalyptische Phantasie, die Pech und Schwefel regnen ließ auf all die Ahnungslosen, Scheuklappenträger und Verstockten wie damals in Gomorrha.

Sie hat das ultimative Kunststück fertiggebracht, das ‚Undenkbare’ aus der Unvorstellbarkeit zu holen und uns mit dem Als-Ob, mit der Simulation eines Ernstfalls abzuschrecken, dessen Eintritt den „trial and error“-Mechanismus unserer Fortschrittsgeschichte auf immer blockiert und nur die Trümmerpanoramen evolutionärer Irrtümlichkeit zurückgelassen hätte. Welche mentalen Rückstände dabei aufzuarbeiten, welche Behinderungen durch Normalitäts- und Normalisierungsreflexe wettzumachen waren, mag an den folgenden Beispielen verdeutlicht werden. Als die erste Atombombe fiel, war das Ereignis für die überlebenden Opfer ebenso unbegreiflich wie für die staatlichen und militärischen Autoritäten. Hätte der Begriff der unfreiwilligen Komik überhaupt ein Existenzrecht in dieser sich sekundenschnell etablierenden Todeszone, so ließe er sich am ehesten auf die Plakate beziehen, die binnen Tagesfrist an noch zugänglichen Stellen auftauchten. Hier teilte das Oberkommando für Westjapan mit, die Einzelheiten des Angriffs würden untersucht, der angerichtete Schaden dürfte sich aber in Grenzen halten. Im übrigen, las man anderswo, solle man bei Verbrennungen in einer Eins-zu-eins-Mischung von Süß- und Meerwasser baden. Das schütze verläßlich vor den Spätfolgen des Bombardements. Die Unangemessenheit solcher Reaktionen hat natürlich auch mit dem Schock und der Ohnmacht angesichts des Nie-Dagewesenen zu tun. Die propagandistische Nutzung des Hiroshima-Effekts durch die USA und die sich anschließende Serie massenmedial ausgeschlachteter Bombentests veränderten diese Situation schnell. Jeder wußte bald, was eine Nuklearexplosion ist. Was sie bedeutete, war damit noch lange nicht in den Köpfen angekommen.

Ein notorisches Beispiel für die frappante Halbwertzeit des Nichtwissens und des mit öffentlichen Geldern nachhaltig subventionierten Nichtwissenwollens ist der 1951 von der U.S. Federal Civil Defense Administration produzierte und vertriebene Lehrfilm Duck and Cover. Im Rückblick nur noch als Lachnummer zu goutieren, informiert er sein nach dem zügigen Ende des amerikanischen Nuklearmonopols selbst atomar bedrohtes jugendliches Zielpublikum, daß der Lichtblitz der Detonation „schlimmere Folgen [haben könnte] als ein Sonnenbrand“, ist dergestalt aber auch schon mit den Hiobsbotschaften am Ende. Denn ein Schultisch, eine Bordsteinkante, ein gegen atomare Hautreizungen über Haaransatz und Nacken geworfener Schal, all das schiebt den feindlichen Böswilligkeiten einen Riegel vor und bewahrt den „can-do spirit“ vor ernsthaften Kopfschmerzen. Deutsche ‚Aufklärungsbroschüren’ waren hier trotz einschlägiger Erfahrungen mit konventionell generierten Feuerstürmen in Städten wie Lübeck, Hamburg und Dresden übrigens keineswegs reservierter, sondern von der gleichen unverbesserlichen Chuzpe.

Noch nachdenklicher stimmt die Tatsache, daß selbst die frühen Produkte des Protests von ausgedehnten blinden Flecken zeugen. Nevil Shutes Roman On the Beach (1957), auf den wir zurückkommen werden, wird unter anderem deshalb ein internationaler Bestseller, weil er einen gleichsam aseptischen und sauberen Weltuntergang präsentiert. Bis auf den Benzinmangel und die dadurch bedingte Rückkehr der Pferdekutschen ist die Welt von Melbourne nämlich die alte und intakt. Das wird sich durchgreifend ändern, wenn die unsichtbare Fallout-Wolke, die der auf die Nordhalbkugel beschränkte Dritte Weltkrieg erzeugt hat, Australiens südlichste Großstadt erreicht. Aber auch von den Symptomen der Strahlenkrankheit und dem Martyrium der Opfer bekommt man in Shutes auf ein Dutzend Einzelschicksale begrenzter Untergangsvision nichts mit. Wie in der 1959 entstandenen Verfilmung mit Gregory Peck und Ava Gardner erleben wir lauter Charaktere, die dem Unausweichlichen, und sei es mit Hilfe von wohlorganisiert und in ausreichender Menge unters Volk gebrachter Euthanasie-Tabletten, gewachsen sind oder sich – selbst als Frauen – doch noch ermannen. Menschliche Wracks und zerbombte Metropolen kommen nicht vor. Durch das Sehrohr des die kalifornische Küste erkundenden Atom-U-Boots wirkt selbst San Francisco so, als sei es mit dem Schrecken davongekommen. Es ist menschenleer und ein wenig vermüllt. Nichts Ernstes, meldet das Auge: Fünf-Uhr-morgens-Stimmung und ein Fall nicht für den Todesengel, sondern die Stadtreinigung. Alles wieder einmal, alles auch zu Ultimo halb so schlimm.

Daß in der literarischen Vorlage eine der Hauptfiguren mit dem Satz „It’s – it’s the end of the world. I’ve never had to imagine anything like that before“ eben die Aufgabe definiert, der sich der gesamte Roman nur in halbherziger und höchst unzulänglicher Manier stellt, gehört zu den Pointen der auch in den wacheren Köpfen nur langsam heraufdämmernden Wahrheit. Sie besagt: Alle Extrapolation bisheriger Kriegserfahrung greift in bezug auf den sich abzeichnenden neuerlichen Konflikt zu kurz. Wird er nicht rechtzeitig entschärft, bricht etwas über uns herein, was alles in seine Annihilation mitnimmt wie ein Schwarzes Loch, die Erinnerung an das Vorgefallene und seine Auslöser eingeschlossen. Oder noch einmal anders:

Besonders der Krieg als existenzielle und politische Grenzerfahrung hat Menschen immer aufs Neue zu Umdeutungen und Überzeichnungen inspiriert. […] Wir alle tragen Bilder des Krieges mit und in uns, die in der Regel nicht auf eigenem Erleben beruhen, sondern auf medial vermittelte Bilder aktueller und vergangener Kriege zurückgehen [und sie] zu einem diffusen inneren Bild des Krieges [verschmelzen].

Aber diese vergangenheitslastige kollektive Deutungsschablone ist, was den aktuellen waffentechnologischen Leistungsstand angeht, realitätsfremd, ja ewig-gestrig. Wir müssen sie mit Hilfe jener Erfahrungen nachrüsten, die wir um den Preis menschlicher Fortdauer nicht machen dürfen und die deshalb nur per imaginativer Vorwegnahme simulierbar sind und sich wie versiegelnde Firnis über den Palimpsest überkommener Vorstellungen legen. Ein paradoxes Procedere, das wohl nicht von ungefähr an die märchenhafte Methode erinnert, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Aber wo wissenschaftliche Rationalität den ultimativen Alptraum heraufbeschworen hat, bleibt die aufklärerische Linientreue und Zimperlichkeit vielleicht besser auf der Strecke, und man greift nach dem phantastischen Strohhalm.

Feinfühlige und Aufgeschreckte wie Günther Anders haben im Gegensatz zum Gros der Intellektuellen nur ein Jahrzehnt gebraucht, um die Anschlußfähigkeit des Nachdenkens an seine potentielle Auslöschung herzustellen. 1956 erscheint Die Antiquiertheit des Menschen, 1972 die Sammlung Endzeit und Zeitende, die die größtenteils aus den 50er und frühen 60er Jahren datierenden Aufsätze und Interventionen wieder greifbar macht. Hier wird mit „prometheischem Gefälle“, „invertiertem Utopismus“, „Apokalypse-Blindheit“ und „Überschwelligkeit der Bedrohung“ jenes Vokabular geschaffen, auf das auch die folgenden Überlegungen mehr als einmal rekurrieren werden, weil es die vorletzten Dinge – unsere Selbstüberforderung durch den eigenen Erfindungsreichtum und unser Nichtwahrhabenwollen dessen, was wir anrichten können – auf den Begriff bringt. Zum Überschwelligen führt Anders aus:

Je größer der mögliche Effekt des Tuns, desto unvorstellbarer, desto unfühlbarer, desto unverantwortlicher wird er; je größer das ‚Gefälle’, desto schwächer der Hemmungsmechanismus. Hunderttausend durch einen Knopfdruck zu erledigen, ist ungleich leichter, als einen einzelnen Menschen umzubringen. Dem aus der Psychologie bekannten „Unterschwelligen“ (dem Reiz, der zu klein ist, um schon eine Reaktion auszulösen) entspricht das „Überschwellige“: dasjenige, was zu groß ist, als daß es noch eine Reaktion, z.B. einen Hemmungsmechanismus, auslösen könnte.

Deshalb also die Notwendigkeit imaginatorischen, einbildungskräftigen Nachhilfeunterrichts, wie er dann in der Tat im letzten Jahrhundertdrittel massenwirksam und flächendeckend erteilt worden ist. Allerdings griffe man zu kurz, wenn man die konzertierten Auf-, ja Hochrüstungsanstrengungen des Vorstellungsvermögens erst mit dem Anbruch des thermonuklearen Zeitalters einsetzen ließe. Karl Kraus’ Letzte Tage der Menschheit von 1922 weisen schon im Titel darauf hin, daß bereits der Erste Weltkrieg „überschwellig“ war und von den traumatisierten Zeitgenossen erst nachzeichnend und nacherzählend eingeholt werden mußte. Mehr noch, die Schere zwischen technischem Können und der notorischen Fehleinschätzung seines sozialen Impact-Faktors ging schon im gesamten 19. Jahrhundert weiter und weiter auf, das prometheische Gefälle legte beständig an Neigungswinkel zu. Nach Sarajevo allerdings wird es zur Steilwand, an der sich nur noch Artisten halten können.

Auszug aus: Abschreckungskunst. Zur Ehrenrettung der apokalyptischen Phantasie. München 2012.