Hoffnungsträger. Späte Aphorismen und ein Entlassungspapier aus dem Dreißigjährigen Krieg. (2006)

Bodenständig und Ortswechseln abhold kann man aus zwei ganz unvereinbaren Gründen sein: aus bornierter Bequemlichkeit oder aus Xenophilie. Die zweite Gruppe reist allein deshalb nicht ab, weil sie zu Hause immer schon im Ausland ist.

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Zum Schinkenklopfen. „For the benefit of mankind“ segnete der Wissenschaftsprophet Francis Bacon ab. Sprach’s und verschied über einem ausgenommenen Huhn, das er zu Konservierungszwecken mit Preßschnee gestopft hatte, so wie man eine Kanone lädt. Inzwischen bestreichen seine Jünger mit einem verbesserten Modell die Bergflanken, damit sich die unermüdlich Vergewohltätigten auch dann noch die Haxen brechen können, wenn der Winter nicht auf die Wettervorhersage gehört hat.

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Bestimmt noch da. Der hellhörigste Nachruf für eingespielte Solisten.

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Nächtens abgeschoben aus dem Reich der Träume fällt mir unversehens das abgedunkelte Zimmer in die Augen, und einen desorientierten Atemzug lang ist mir, als blicke ich unter meine eigene Schädeldecke. Erst die Schemen der Bordüre helfen dem Realitätssinn auf die Sprünge.

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Toter Mann heißt die Begründung für das Im-Boden-Versinken, aber auch die
energiesparendste Schwimmhaltung.

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Selbstdiktat. „Guter Vorsatz: Vom Eintrag zum Einträglichen gelangen. Absatz …“

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Pflanzen sind Lichtfresser, und auch die Nachtschattengewächse verdanken ihren Namen nicht der Fähigkeit, von der Dunkelheit zu zehren, sondern der fehlerhaften Übersetzung des Althochdeutschen ’nahtscato‘ (schwarzer Schaden, Gift), einer volksetymologischen Sinnverdüsterung also. Um die Lichtlosigkeit, die doch alles verschluckt, zu verdauen und ihr Nährstoffe zu entziehen, braucht es dagegen ein eher seltenes Enzym, das die Griechen melaina chol? getauft haben und die zeitgenössische Medizin vor lauter Depressionen nicht mehr wiederfindet.

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Daß sich Kerzen lichten, ist ihre Natur. Die großen allerdings neigen dazu, nach innen zu brennen und eine durchscheinende Wand, wenn nicht sogar einen wächsernen Damm zwischen der Flamme und ihrer Umgebung stehen zu lassen.

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Der Hit sind Ermöglichungsmaschinen: Handys, um Mitteilenswertes in die Welt zu setzen, PCs, um die Gedanken hintereinanderzubringen, Scanner, um seine Aufnahmefähigkeit zu steigern. Der kapitale Denkfehler, mit dem sie an den Mann gebracht werden, besteht allerdings darin, die Kür, die einer dem staunenden Publikum vorzuführen wünscht, mit der aufgedonnerten Hilfestellung zu verwechseln.

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Sich gesundstoßen? Jeder zweite versteht das inzwischen als eindeutiges Angebot thailändischer Mädchenhändler, macht aber zur Bedingung, daß es bei aller fernöstlichen Zartgliedrigkeit aus voller Brust kommt.

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Es gibt Fluchten, aber kein Entrinnen. Flucht also, bis die Lungenflügel hinüber sind.

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Wenn die meisten Morde nicht auf die Zündkapsel des Effekts angewiesen wären, würden alte Rechnungen durchweg zu Silvester beglichen. In ganztägigem Vorspiel gehen selbst Salven unter, und die Mitternacht sieht man nach altem Brauch entgeistert heraufziehen.

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Obzwar die Gerte das Leitbild der nachrückenden Frauengeneration abgibt, wachsen die Wurzelballen dieser Reiser ins Unerhörte. Unter Schuhgröße 40 kommt keine Jungfrau mehr auf die Beine, und die gewaltige Sohlendicke gibt dem Laufwerk etwas doppelt Orthopädisches. Hut ab also vor der Mode und ihren Intuitionen! Oder hat die Schönheit an diesem Jahrtausendende etwa keine doppelten Klumpfüße?

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Fertig‘ oder ‚kaputt‘ sagte man ihnen früher nach; letzteres übrigens ein interkulturelles Souvenir aus dem Dreißigjährigen Krieg. Derzeit sind die Wracks ‚durch den Wind‘, womit wenigstens die Metaphorik wieder kalfatert und wasserdicht wäre.

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Fast fünfzig und noch nicht einmal ein Schwein abgestochen. Was eigentlich richtet der massenhafte Luxus des Nicht-mehr-selbst-töten-Müssens an? Staut sich da eine darwinistische Mitgift triebhaft auf, bis die Unschuldslämmer verwerwolfen und sich gegenseitig abschlachten, oder kehrt die Sanftmut der Pflanzenfresser in Seelen zurück, denen der Bratenduft keine Erinnerungen an ein vorgängiges Verröcheln mehr zuträgt?

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Jede Schublehre beweist, nach der Lektüre ist ein Buch dicker. Dabei wollen die Leser doch immer etwas mitgenommen haben.

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Symposion hieß einmal Trinkfest, und das stand den Teilnehmern auch auf perlenden Stirnen geschrieben. Inzwischen ist dies alles zu einer Domäne von Magengesichtern heruntergekommen, die sich lieber dreimal am Tag besoffen reden, als sich und den Kollegen auch nur tropfenweise reinen Wein einzuschenken.

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In einer Geschichte der verspäteten russischen Philosophie wird auch die Oblomowerei zur Sprache gebracht. Ekel, Lähmung, inneres Chaos macht der Verfasser jener Geisteshaltung zum Vorwurf, sowie ein zwanghaftes Sich-Absentieren „in den flüchtigen ästhetischen Genuß, der im Verdunsten die Langeweile wieder kondensieren läßt“. Woher aber kommt dieses Bild, das einprägsamer ist als das ganze erklärerische Drumherum, wenn nicht aus dem Zurückgelehnten, einem sich einschleichenden quasi-Oblomowschen Leerlauf,der ansonsten taktvoll Zwischenergebnis um Zwischenergebnis ausstoßenden Denkmaschine?

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Wie in Agentenkreisen gibt es auch im normalen Leben das Phänomen der ‚Schläfer‘, d.h. Stand-by-Existenzen, die auf ihre Aktivierung im Rahmen einer Mission warten, deren Stellenwert sie nicht einschätzen können. Fragt sich nur, wer in diesen Fällen nach der Fernbedienung greift.

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Wenn uns etwas gefällt, entfällt uns oft genug sein geistiger Eigentümer. Dann heben wir das herrenlose Gut gut auf im Kopf, gehen zunehmend sorglos damit um, endlich auch hausieren – und fühlen uns ertappt, wenn wir durch Zufall wieder an die Fundstelle geraten. Eben das passierte mir mit einem stadtbekannten Komiker, dem ich hiermit seinen Künstlernamen Harlekin Carlin, seinen Tod im Jahre 1778 und sein Fortdauern in Johann Georg Zimmermanns vierbändiger Einsamkeit von 1784/5 zurückerstatte: „Als daher einst ein Kranker bey einem der ersten Pariser Aerzte über Anfälle der schwärzesten Melancholie klagte, rieth ihm der Arzt, er müsse sich mehr heitere Zerstreuung machen. Besuchen Sie die Italienische Comedie, sagte er: Ihr Uebel muß sehr tief stecken, wenn Sie Carlin, der Harlekin, nicht curirt. Ach, sagte der Kranke, ich bin Carlin selbst, und bin um nichts fröhlicher, wenn ich gleich alle anderen lachen mache.“

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Da redet man sich ein, man stecke noch mitten in den Fingerübungen. Und doch ist das Konzert schon vorüber.

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Das Vorspiel der Freude auf den Gesichtern Neugeborener heißt mundartlich ganz richtig Schäuerchen, wird sie doch späterhin flüchtig sein wie eine vorüberziehende und Erfrischung spendende Wolke. Sobald der Verstand einsetzt, beginnt das Kind denn auch zu fremdeln.

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Was wollen unsere schlimmsten Quälgeister, die unbarmherzigsten Inquisitoren ohne Rücksicht auf Verluste aus der Welt schaffen? Das Leiden. Und wer erscheint als der verteufeltste Ketzer? Der es für sich behalten möchte.

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Zynismus heißt die Innenarmierung, welche verhindert, daß einem das Herz bricht.

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Manchmal ist Jules Renard unverbesserlich: „Wenn ich die Brust einer Frau betrachte, sehe ich doppelt.“ Dann wieder möchte man Hand anlegen. „Dreist verleihen die Menschen den Sternen Namen“ zum Beispiel halte ich für überbietbar: Das Paradies dauert an. Unbeirrbar im Adamskostüm taufen wir die Sterne.

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Museum für zeitgenössische Kunst. Schon auf der Anreise zweihundert Kilometer gespurt. Ohne mit der Wimper zu zucken, eingefahren in eine abgrundtiefe Häßlichkeit. An der Kasse Schlange gestanden, den Museumsshop in den Augenwinkeln, wo die Regale den Lobpreis kaum fassen. Betreten. Am Ende der Strapazen mit Müh und Not die paar Armseligkeiten herausgeklaubt aus den Glanzleistungen des Erbärmlichen, zwischen denen das Publikum beim Gongschlag von der Bildfläche zu verschwinden hat.

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Der Heilige Stuhl. Soviel unmetaphysische Direktheit will erst einmal verdaut sein.

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Nachts werden die Blinden sehend: Jeder Traum ein Lichtblick.

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Dauerfrost. In der Abenddämmerung gibt es eine Phase, in der alles in zunehmender Überbelichtung zu vergehen scheint, sich in eine Art molekularen Reif auflöst.

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Als die Patienten noch mittelalterlich im Saft standen, hat das Nachvollziehbare und Einleuchtende der Therapien manche medizinische Hilflosigkeit wettgemacht. In der Neuzeit kehren sich die Verhältnisse um. Im Gegensatz zur Humoralpathologie ist den Körpernbildern der zeitgenössischen Diagnostik jede Anschaulichkeit verlorengegangen. Die pharmazeutischen Eingriffe in den leiblichen Chemismus mögen hocheffizient sein, aber weil der Kopf und sein Vorstellungsvermögen nicht mehr mitkommen, ist bei der Genesung oft genug der Saft raus.

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Fortpflanzung. Da kann von hohen Erwartungen wahrlich nicht die Rede sein. Die Sprache läßt das anstehende Fleisch abschwellen bis zur Botanik.

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Gestern krampfte die Seele. Heute sitzt sie, wie immer nach solchen Heimsuchungen, im altmodischen Fauteuil der Ermattung und fährt mit den Fingerspitzen das Muster ab.

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Auf ihren Nußschalen fahren die Elfen über die Erde. Und wenn sie kentern, ertrinken sie im Boden.

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Spannend nicht nur das rote Kleidchen, das sie herübergerettet hat aus leichteren Jahren, spannend auch die Verwandlung. Mit dem Betreten der Tanzfläche ist aus dem Gehfehler eine üble Nachrede, aus der Drallheit eine Feengabe geworden. Sie tanzt? Nein, alles tanzt an ihr, mit ihr. Ein Partner? Geschenkt. Die Arme fliegen, das Fleisch wellt und glättet sich wieder … Wie der Weinrest im Glas, wenn die Fähre beim Anlegemanöver noch einmal von der Schraube durchgerüttelt wird. Nur legt sie ab. Nur steuert sie, volle Kraft voraus, hinaus in eine ozeanische Hingabe.

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Für Meisen werden wir nie flügge, sondern vegetieren am Rande des Erstarrens dahin, eingebacken in unsere Lethargie wie Sonnenblumenkerne in den Talg dieser winters wachsenden Knödel.

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In Diskussionen bei Wahlkämpfen, ja selbst im Forschungsbetrieb, überall wird jetzt um die Lufthoheit gerungen. Man kann das als sprachliche Aufrüstung deuten – oder aber als paramilitärisch getarntes Eingeständnis, daß auch der erfolgreichste Coup, die den Gegner am Boden zerstörende Operation mit dem Ausfahren der Landeklappen endet.

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Hierzulande werden Gedichte nicht mehr für Leser, sondern direkt für ihre germanistischen Bevormunder und Substituten geschrieben, und zwar am besten gleich vom Nachwuchs der Zunft. Will sagen, die Lyrik hat ihren Geist aufgegeben. Frohlocken wir also über den Totgeburten. Denn Wiederauferstehung feiern kann doch nur das, was so lange ohne Seele und ohne Hirnströme ausgekommen ist, bis es ruchbar wurde.

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Der Regen ist ein Dadaist. Hinter dem Wehr bringt er ein paar stocksteifen Stämmen und einem aufgeblasenen Reifen die Rolle rückwärts bei.

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Dasselbe Vergehen und keinerlei Handhabe.

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Kunst will bereichern; sie überläßt dem Scharlatan selbst noch das Reflexivpronomen.

 

EVASION I

 

Jetzt komme ich noch einmal und dann nimmermehr.‘ Um vier Uhr morgens funkelt das Salz auf der Autobahn. Mittags empfiehlt sich zur Verringerung der Unfallgefahr der Schutzfaktor 12. Dazwischen liegen dreitausendsechshundert Kilometer. Max Webers vielzitierte These von der Entzauberung der Welt ist ein Märchen und – urlaubsreif.

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Am zweiten Tag stürmische Animation. Den Liegen am Strand klappt es die Kopfteile auf wie Krokodilsrachen. Vom FFK-Areal kämpfen sich die letzten Aufrechten zurück, die Mütze tief in die Stirn gezogen, das Gemächte taktvoll pendelnd im prickelnden Sandstrahlgebläse.

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Wie aus einer umgedrehten Sanduhr füllen sich jeden Morgen die Robbenbänke. Und wer sich dort lange genug bestrahlen läßt, unterscheidet bald zwischen Somnambuhlen und Sonnenbullen.

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Nicht bewegt vorgetragen, sondern wenn sich die Wasser über ihnen teilen und ein Film sie eben noch festhält, der in keine Kamera paßt, sind sie am schönsten.

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Urlaubskoller heißt der Aufstand des Ancien regime in uns gegen die Machtübernahme der Sansculotten und Pooligane. Er dauert einen bewölkten Tag. Danach empören sich selbst die Barrikaden und wollen wieder Dünen sein.

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Fachmännisch und mit Engelsgeduld trennt der Schweißbrenner den Himmel auf. Aber im Schutze der Dunkelheit, wenn der große Bruch steigen soll, finden sich nur noch zahllose wahllose Bohrlöcher, so als hätten Dilettanten in zunehmender Panik das Herzstück des Schlosses zu treffen versucht.

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Was die Moralapostel seit Francos Heimgang nicht mehr bewerkstelligen, erledigt der Wind freizügigst. Auf Hunderten von Strandmetern herrscht schiere Sittsamkeit.

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Wie vor der großen Katzennummer im Zirkus hat man Gitter abgeladen. Nur sollen sie das Raubzeug nicht ein-, sondern aussperren. Die Anlagen werden mit Wachmännern und Stacheldraht in den Verteidigungszustand versetzt, igeln sich ein. Nachts liegt der Schlaflose in Flutlicht gebadet.

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Die Gesichter wechseln so schnell, daß man sich nach acht Tagen als Methusalem zu fühlen beginnt. Schon haftet nichts mehr außer dem Eindruck, die Anfangskonstellation sei – wie immer – die vielversprechendste gewesen und die Beteiligten ansehnlicher oder charaktervoller als die Nachkommenschaft.

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Der offizielle Reiseführer von Las Palmas de Gran Canaria weiß im kulturellen Teil zu vermelden: „Die Fassade des Literaturvereins gehört zu den schönsten der Stadt.“ Das ist eine Auskunft, die so auch für die meisten Metropolen Europas Gültigkeit besitzen dürfte; nur läßt sie sich hier photographisch belegen.

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Der totschlägerischen Metaphorik zum Trotz ist die Mordshitze ebenso entwaffnend wie die alles an die Kette der Untätigkeit legende klirrende Kälte. Wenn sie im Ernst zu brüten beginnt, entströmt den Nachmittagen ein Fluidum metaphysischer Ausgekochtheit, in dem die schon siedende Schöpfung ohne einen Seufzer, ohne einen Freudenschrei aufgehen möchte.

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Hoch über dem Rondell die Stripper in Steigeisen. Unter ihnen wiegen sich die Palmen, stämmig und bloß.

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Mögliche Schlußeinstellung: die Dünen von Maspalomas, das getürkte Kolonialhotel, dahinter der kahle Inselschädel, leicht grünlich in frühlingshaftem Unwohlsein.

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Plötzlich ist sie zurück aus der Verschwommenheit und zieht wieder ihre Bahnen, den Kopf bei jedem Zug eine Handbreit zur Seite versetzend. Ein hinkendes Sich-über-Wasser-Halten, in der Erinnerung versunken und nach einem Jahr am gleichen Ort wieder auftauchend wie ein vorwitziges Stück Kork.

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Die Presse verträgt das Einfliegen nicht. Ob man ein heimatliches Magazin, eine Wochen- oder Tageszeitung aufblättert, überall die Atemlosigkeiten von dreißigtausend Fuß und verklemmte Sauerstoffmasken.

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V-Effekt am Strand: Die Menschheit – und hier muß man den nackten Tatsachen ins Gesicht sehen – besteht keineswegs zum Großteil aus Erwachsenen, sondern aus …

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Nur beim Essen verhüllen sie sich noch. Vielleicht spürt das Fleisch die Verwechselungsgefahr.

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In dem ausgebrannten Restaurant an der Avenida de Tirajana haben die Aufräumarbeiten begonnen. Mitten im verkohlten Gastraum steht ein Tisch mit blütenweißer Decke. Dahinter sitzt der Chef, zeichnet Papiere ab, macht lachend Konversation, gibt den Arbeitern Anweisungen, ist überhaupt mit Feuereifer bei der Sache. Mit diesem Bild endet das Märchen von einem, den die Flamme nicht verzehrte, weil er sie schluckte.

Auszug aus: Hoffungsträger. Späte Aphorismen und ein Entlassungspapier aus dem Dreißigjährigen Krieg. Warendorf 2006.