Anatomie Aaron. Heiner Müllers Totentanz und Negerkuss. Ein Krauskopfkommentar. (2003)

Ist Heiner Müller, grobmotorischer Abschminker des Rouge der Revolutionen und leidenschaftlicher Demaskierer ideologischer Gesundbeterei, eigentlich selbst durchschaubar? Viele kritische Stimmen zum Werk, die Müllers vorneweg, haben das geleugnet. Wer zur Prosa auf Distanz geht, weil er dort „ganz allein“ sei und „sich nicht verstecken“[1] könne, wer den Schreibvorgang des Dramatikers als „Verschweigen […] oder Maskieren des Biographischen“[2] begreift und dabei „alle Intentionen verbrennt“[3], der souffliert seinen Interpreten, daß sich im Reigen der Selbstinszenierungen eben dieses Selbst losgeworden ist, daß der Blick hinter die jeweilige Maske immer nur auf eine weitere Larve oder aber ins Leere stoßen wird. Der Autor als Wechselbalg, als Chamäleon und „virtuosic wriggler“[4], so spricht das die erste englischsprachige Müller-Monographie nach, und auch in dem aufmüpfigen Text und Kritik-Band erscheint seine Person – erstaunlich einvernehmlich – als unermüdlich remodellierte persona, die ihre Apotheose in der Medienikone erreicht habe, als die die „west-östliche Diva“[5] schließlich von der öffentlichen Bühne abgetreten sei.

Zum Glück kann man sich von Müller selbst gegen soviel gutgläubige Folgsamkeit schutzimpfen lassen, hat er doch kein Hehl aus dem Einsichtsgefälle zwischen Kunst und ihren Epiphänomenen gemacht. „Ich habe mit meinen Kommentaren nie das Niveau meiner Stücke erreicht“[6], heißt es zum Beispiel in einem Gespräch mit Uwe Wittstock, und nachdem er dessen Suggestivfrage nach seiner Unfehlbarkeit als Dramatiker schlicht und einfach bejaht hat, setzt Müller hinzu: „Ansonsten rede ich den größten Blödsinn“[7]. Das ist keine billige Anbiederei, sondern ein souveräner Bevormundungsverzicht, die Ermutigung, selbst nachzusehen, die Masken, Figurationen, alter egos Revue passieren zu lassen und sich ein Bild ihres Urhebers zu machen, wie ja auch die Interpretation der Stücke nach dem Willen ihres Verfassers nicht einmal Schauspieler oder Regisseure etwas angeht, sondern ausdrücklich dem Publikum aufgetragen bleibt.[8]

Nutzen wir dieses Mandat und besichtigen wir den originellen Kopf zunächst rein äußerlich, ohne dabei in die Verblendungsfalle zu tappen, in der uns nur noch ein kulturelles Markenzeichen mit denkbar hohem Wiedererkennungswert begegnet. Denn das Image ist fabriziert, und zwar als Selbstschutz und als Mystifikation zugleich:

„Er hatte ganz lustige und ganz traurige Augen, ganz besondere Augen, die konnte man hinter der Brille überhaupt nicht sehen, die hatte er echt versteckt, so Knöpfchen, wie ein Elefant, so was Zerbrechliches, und die Brille, das war wirklich genau das Gegenteil, als hätte er sich hier so’n Stacheldraht hingebaut, wo die verletzlichste Stelle ist, und wenn er die Brille abnahm, dann – o Gott! Paß auf ihn auf!“ [9]

Der liebevolle Blick von Margarita Broich leistet die Enttarnung in wenigen Zeilen und zeugt von einer intimen Einsicht, die – gleichsam außer Konkurrenz formuliert – nach dem Tod Müllers ohnehin nicht mehr zu haben ist. Aber als kleine Sehschule trainiert sie unser Sensorium für die Paradoxie dieses Erscheinungsbilds, und so gewappnet sind dann selbst posthum und für Wildfremde noch Entdeckungen zu machen. Zum Beispiel auf dem Coverphoto der schon genannten Text und Kritik-Ausgabe, das Müller im Halbprofil präsentiert und augenfällig werden läßt, wie der en face so glatt und streng zurückgekämmte DDR-Kulturschaffende und Staatspreisträger sich rücklings wellte und lockte und sich also nach jedem untadeligen Entgegenkommen als anarchischer Krauskopf wieder entfernen mußte.

Wer sich an meine Fersen heftet, wer mich und mein Werk verfolgt, hat Müller mit seiner Neigung zur Überzeichnung auch seiner Körpersprache zu verstehen gegeben, der hat eine andere Ethnie, nein Rasse vor sich. Ich bin ein Neger[10] lautet der Titel eines Diskussionsmitschnitts nach der Büchner-Preisverleihung von 1985, in dem acht Jahre älteren autobiographischen Fragment „Ich sitze auf einem Balkon …“ steht der Satz: „Ich bin ein Kolonisierter, unter der grauweißen Clownsschminke (ist meine Haut) schwarz“[11] und in zwei Müllerstücken agieren ‚schwarze Männer‘, die nicht zuletzt als Projektionsfiguren dienen, in exponierter Stellung. Der eine, Sasportas aus Der Auftrag, setzt sich in seinem ‚Testament‘ aus einer ebenso mörderischen wie aussichtslosen Episode karibischer Kolonialgeschichte in die jenseitige Solidargemeinschaft der Opfer ab – „wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen“[12] – und erschließt damit das Asyl „Traumzeit“, in das auch Müller nach dem Zusammenbruch der DDR seinen heterodoxen Kommunismus zu retten suchte.[13] Der andere, um den es im folgenden hauptsächlich gehen soll, ist der schwarze Doppelaußenseiter Aaron aus Anatomie Titus. Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar.

Was lernen wir, ist die Frage, über die Kunst und das Künstlertum Heiner Müllers, wenn wir die beschriebene Selbstein- und Selbstanschwärzung zum Ausgangspunkt nehmen und uns von ihr zur Auseinandersetzung mit dem spektakulären ‚Avatar‘ Aaron motivieren lassen? Meine vorweggenommene Antwort lautet: etwas ganz Entscheidendes, wenn nicht das Entscheidende, wobei allerdings der Irrweg der bloßen Vervielfachung von Analogien – wie der zwischen dem unrömisch-ungotischen misfit Aaron und dem halbwüchsigen Sachsen Müller, der sich nach der Übersiedlung der Familie ins Mecklenburgische als „feindlicher Ausländer“[14] fühlt, zu vermeiden ist. Die Spiegelbildlichkeit zwischen Autor und Figur begründet sich vielmehr funktional, denn beide sind Aktivisten und Spielmacher.

Der Dramatiker Müller stellt sich einen Drahtzieher vor und stellt ihn, den Schöpfer und damit sein Original verdeckend, vor sich hin:

DER NEGER IST SEIN EIGENER REGISSEUR
ER ZIEHT DEN VORHANG SCHREIBT DEN PLOT SOUFFLIERT
[…]
AUF DEM THEATER SEINER SCHWARZEN RACHE [15]

Dabei hat er in den beiden verfeindeten Lagern gelehrige Schüler: die Gotenprinzen Chiron und Demetrius, die der Kommentar innerhalb von einem guten Dutzend Seiten von „fuchtelnden“ Marionetten[16] zu „KÜNSTLERN“[17] befördert, und den demontierten Königsmacher Titus, die ent-rechtete graue Eminenz, den geschaßten General, der sich selbst, schon halb unter der Erde, will sagen im Keller, Nachhilfestunden gibt: „DER RÖMER LERNT DAS ALPHABET DES NEGERS.“[18] Auch in seinem vorgerückten Alter kommt der eifrige Nachbuchstabierer dabei noch weit genug für das absurde Theater der Bittbriefpfeile, die er schwarz geschminkt[19] von der Sehne schnellen läßt, wie auch für das menschenfresserische Grand Guignol des Finale.

Durch Imitationslernen zu eigen gemacht haben sich die Performance-Debütanten allerdings eine ganz und gar unschöne Kunst, die „MIT GEZINKTEN KARTEN SPIELT“[20] und sich der Überbietungslogik des Grauenhaften verpflichtet weiß. Das ritualisierte Schlachtfest unter Kriegsgefangenen, die Liveshow der Vergewaltigung, eine Geschändete als atmender Torso, das Kunststück der Wiedereinverleibung des eigenen Fleisch und Bluts durch eine ahnungslose Mutter, das sind Eskalationsschritte in Sachen Bestialität, die Müller als Regieleistung seiner vier Klone vorführt. Wenn er sich in Aaron reproduziert und der wiederum gegenüber Chiron, Demetrius und Titus bis auf die Knochen abgefärbt hat, bewegt sich der Schwarze Peter der Verantwortlichkeit natürlich in Gegenrichtung, was sich als fatal erweisen müßte, wäre das gesamte Verdopplungsverfahren als Delegation von Zurechenbarkeit und Exkulpationsstrategie gedacht gewesen. Es liegt aber ein – auf bitterste Weise erfolgreicher – Selbstverständigungsversuch vor, weshalb sich Müller auch nicht dadurch aus der Affäre zu ziehen versucht, daß er die ultimative Schuldzuweisung gleichsam über den eigenen Kopf hinweg an Shakespeares Prätext weiterreichte, den er schließlich nur bearbeitet hätte. Im Gegenteil wird die ‚Schande‘ des literarischen Exzesses brüderlich geteilt, und es ist, wie Urs Jenny ganz richtig bemerkt[21], Skrupellosigkeit, mit und in der Müller sich ‚im grauen Mantel seines Niemandsnamens‘ bei dem skrupellosen Übervater des neuzeitlichen Dramas unterhakt:

DEIN MÖRDER WILLIAM SHAKESPEARE IST MEIN MÖRDER
SEIN MORD IST UNSERE HOCHZEIT WILLIAM SHAKESPEARE
MEIN NAME UND DEIN NAME GLÜHN IM BLUT
DAS ER VERGOSSEN HAT MIT UNSERER TINTE [22]

Wie Titus‘ gotteslästerliche Geschosse ist für Müller auch die Kunst abgestürzt, im Fegefeuer der Geschichte angekommen, ja zur Hölle gefahren. In dieser sich munter aufschaukelnden „saison en enfer“ erweist sich der schwarze Humor, „HUMOR DES FLEISCHERS ODER DER VERZWEIFLUNG“[23], als letztes – toxisches – Lebenselixier und die zynische Maske „DES GEILEN ONKELS KENNER VIELER KÜNSTE“[24], die dem Träger unweigerlich anwächst[Nr. 25], als einziger noch halbwegs wirksamer Schutz für die darunter verschwindenden menschlichen Züge. Denn der Autor als Wissender, Lehrer, moralische Instanz oder gar säkularer Heiland hat abgewirtschaftet, die guten Gründe für das Literaturmachen und Stückeschreiben, die der ästhetische Diskurs in jahrhundertelanger Überzeugungsarbeit zusammengetragen hat, sind diskreditiert und abgeräumt. Was bleibt, wären zwielichtige bis pathologische Motivationen[26] wie „Schadenfreude“[27], Rachsucht, Destruktivität[28] und die Lust des ‚Negers‘, fast allen und jedem übel mitgespielt zu haben. Das vormals als schöngeistig Herausgeputzte entspringt, so scheint es jetzt, eher niederen Beweggründen, und ganz wie Lavinia ihr schreckliches Wissen mit einem Stab in den Boden kratzt, hinterläßt Heiner Müller wenig erbauliche Mitteilungen im Staub der verkohlten, veraschten Ideale. „Beim Schreiben [dominiert] eine absolut verantwortungslose Tätigkeit“[29], ist dort etwa nachzulesen oder auch: „Kunst hat etwas Kannibalisches. Kunst verbraucht Menschen, Kunst zerstört Menschen“[30]. Poesie ist nicht Katharsis, Reinigung, rein, „Poesie ist Schuld“[31], weil sie sich dem Mitläufertum und der Kollaboration verdankt: „Du mußt einverstanden sein auch mit der Gewalt, mit der Grausamkeit, damit du sie beschreiben kannst. […] Es ist sicher ein Problem, […] ob Kunst überhaupt human ist. Sie ist es nicht. Sie hat nichts damit zu tun“[32].

Kann es noch schlimmer kommen als dieses Selbstdementi, diese Selbstbestattung, diese ‚Aaronisierung‘ ästhetischer Ambitionen? Sehen wir bis zum Schluß in den Müller-Spiegel, verfolgen wir das infernalische Endspiel des schwarzen ‚Regisseurs‘, der schon halb eingegraben „IN DIE ERDE WÄCHST“[33] und doch das Metzelhaus, die „MÖRDERGRUBE“[34] mit einem irren Hohngelächter füllt. Ein Todgeweihter, ein hoffnungsloser Fall, Zielscheibe der poetic justice, entnehmen wir der Sekundärliteratur, eine adaptierte Vice-Figur, mit der Shakespeare das Böse aus der Welt schafft, damit wieder Eintracht und Harmonie einziehen können ins Römische Gemeinwesen. Shakespeares ‚Blutsbruder‘ Heiner, erfahren wir weiter, sei da wohl weniger blauäugig veranlagt:

„Nichts mehr weist wie am Ende von Titus Andronicus hier auf die Restituierung der (Heils-)Ordnung in einem purgatorischen Endkampf hin. Im Unterschied zu Shakespeare, der in Titus Andronicus die Unheilsmaschinerie des Verstümmelns, Schändens und Mordens in einem versöhnlichen Ausblick zum Stillstand bringt, entwirft Müller in Antomie Titus. Fall of Rome das Bild einer geschlossenen Welt/Geschichte, die im fortgesetzten Massaker den ihr gemäßen Ausdruck findet.“ [35]

In dieser Deutung war Shakespeare ein unbelehrbarer Tagträumer, während wir in Heiner Müller einen weltweisen Pessimisten vor uns haben, der die Lektüre des Dünndruck-Schopenhauer, den er in den Wirren der Kapitulation mitgehen ließ, ohne sich damit anfreunden zu können,[36] recht bald nachgeholt haben muß. Noch besser wäre es allerdings gewesen, der Interpret selbst hätte Müllers Stück zu Ende gelesen. Dann müßte ihm nämlich aufgefallen sein, daß sich die Dinge durchaus andersherum verhalten, d.h. die Müller unterstellte Skepsis bereits in der Shakespeare-Vorlage zu finden ist, während der „Shakespearekommentar“ den typisch elisabethanischen Komödienschluß für seine Zwecke adaptiert:

IM KANNIBALENLOOK DER
GOTENSCHLÄCHTER
TANZT MIT DEM NEGER AUF DER ASCHE
ROMS [37]

Anatomie Titus endet also keineswegs gesenkten Hauptes, sondern taktvoll im „SLOWFOX“, und nicht eine ohnmächtige Versöhnungsgeste von einem Leichenberg herab verabschiedet die Zuschauer, sondern zwei aus der Dunkelkammer, dem Schattenreich Zurückgekehrte, die offenbar nicht umzubringen sind.

Die Antwort Müllers auf die desolate Situation aus eben der desolaten Situation heraus ist die Aufforderung zum Totentanz. Auf dem Gipfel der Desillusionierung und am Nullpunkt des Urvertrauens in die Weltveränderungspotentiale der Poesie läßt er sich von einem ‚Schwarzarbeiter‘ daran erinnern: Das kann ich auch – heraufbeschwören und abservieren, aus dem Nichts zurückrufen und – „die Funktion von Kunst besteht […] darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen“[38] – der Nichtigkeit überantworten, den Staub der Geschichte aufwirbeln, Gestalt annehmen und mal Quickstep, mal Slowfox tanzen lassen, kurz, Shakespeares Aaron Konkurrenz machen, der auf die Frage nach seiner Beschäftigung wissen läßt:

Oft hab ich Tote aus dem Grab gescharrt
Und aufgepflanzt vor ihrer Freunde Tür
Grad wenn der Schmerz beinah vergessen war
Und schnitt in ihre Haut, wie in Baumrinde
Mit meinem Messer in gut römischer Schrift:
LASST EUREN SCHMERZ NICHT STERBEN
MEINEN TOD. [39]

Hier wird Heiner Müllers Lebenswerk in beispielhafter Weise auf den Punkt gebracht, und die Tatsache, daß diese Summe ihm um etliche Jahrhunderte zuvorkommen konnte, bestätigt gerade den privilegierten Zugriff der Kunst auf alles, was nicht mehr oder noch nicht anwesend ist.

Wo die Kunst auf Totenwache zieht, da wird sie, da wird es quicklebendig, denn Müller, von Besserwissern gelegentlich als „Adventist einer ‚Befreiung der Toten'“[40] bespöttelt, ist kein Einzelfall. „Schutzengel“[41] des und der Verblichenen sind die – nicht zuletzt deshalb ihrerseits unvergessenen – Großen und Namhaften der Literatur alle gewesen, und selbst wenn manchem Müllers Diktum „Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft“[42] zu effekthascherisch vorgekommen sein möchte, hätten sie das folgende nüchternere Statement wohl ausnahmslos unterschrieben: „Kunst aber stammt aus und wurzelt in der Kommunikation mit dem Tod und den Toten. Es geht darum, daß die Toten einen Platz bekommen. Das ist eigentlich Kultur.“[43] Ohne Unterlaß hat Müller das Zwiegespräch mit jenen gesucht, denen er erst eine Zunge geben mußte, hat Gesichtslosen zu einer Identität, einem Schicksal verholfen wie dem schemenhaft aktenkundigen Gestapo-Opfer in „Geld für Spanien“[44]. Man sieht ihn einladen und auffordern, führen und vorführen, umwerben und stehenlassen, zu Fall bringen und aufrichten, und doch will es so scheinen, als seien es vor allem drei Paarungen gewesen, die dem großen Totentanz des Heiner Müller sein unverwechselbares Gepräge gegeben haben: der Tanz mit der Wiedergängerin und toten Frau – der Tanz mit dem Vorgänger und ‚überlebten‘ Klassiker – der Tanz mit dem Doppelgänger und todgeweihten Ich.

Die Lyrikerin Inge Müller stirbt 1966. Wie bei Sylvia Plath war es ein Leben zum Tode gewesen, das ihren Mann zu hilfloser Augenzeugen- und Mitwisserschaft verurteilte:

Gestern hat sie versucht sich aufzuhängen. Morgen
Wird sie sich die Pulsadern aufschneiden oder wasweißich.
Wenigstens hat sie ein Ziel vor den Augen. [45]

Diese entnervt-überforderten Zeile aus dem „Selbstbildnis zwei Uhr nachts“ datieren vom 20. August 1959, sind also sieben Jahre vor dem letzten und erfolgreichen Suizidversuch seiner Frau geschrieben. Übriggeblieben auf der doppelsitzigen Folterbank gibt es für den traumatisierten Überlebenden nur die schlichte Alternative: lebenslängliches Verdrängen oder die Orpheus-Option eines kunstvollen Wieder-Holens. Die absehbare Entscheidung fällt, wohl noch in den sechziger Jahren, in einem zweiten Gedicht.

GESTERN AN EINEM SONNIGEN NACHMITTAG
Als ich durch die tote Stadt Berlin fuhr
Heimgekehrt aus irgend einem Ausland
Hatte ich zum erstenmal das Bedürfnis
Meine tote Frau auszugraben aus ihrem Friedhof [46]

In die befreiende – „was ich gut beschreiben kann, das kann mich nicht mehr deprimieren“[47]-, in die zwei Menschen aus ihrer Leichenstarre erlösende literarische Tat umgesetzt hat Heiner Müller dieses ‚Begehren‘ mit „Todesanzeige“[48] (1975/6). Freiwillig kehrt er darin in die schreckliche Vergangenheit, an den Unglücksort zurück und gerät fast unmittelbar in die dramatische Urszene der Ansprache, des Sehens und (sich) Zusehens, der Schaustellerei und der (Vor-)Spiegelungen:

„Sie war tot, als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden […]. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, daß ich Theater spielte. Ich sah mich, an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt halb belustigt einem Mann zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinboden hockte, über seine vielleicht bewußtlose vielleicht tote Frau gebeugt, ihren Kopf mit den Händen hochhielt und mit ihr sprach wie mit einer Puppe für kein anderes Publikum als mich.“ [49]

Hier kann man verifizieren, warum Müller das Drama als „Totenbeschwörung“[50] begreift, deren kategorischer Imperativ ‚Ruhestörung‘ heißt: „Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist“[51]. In der beschriebenen Initiationsszene fallen Rückruf und Berufung zusammen: mit der unabgegoltenen (Lebens-)Geschichte kehrt der schöpferische Möglichkeitsraum zurück, in dem Müller seine besten Arbeiten schreiben wird. Der Produktive muß sich, noch einmal anders, nichts mehr vormachen, weil er sich etwas vorführen kann, was die erstarrten, die paralysierten Verhältnisse zum Tanzen bringt. Dieses Kunststück ist dann in „Bildbeschreibung“ (1984)[52] zusammen mit „der Frau noch beschwert vom Gewicht der Graberde“[53] erneut zu besichtigen, und zwar auf extremem Anforderungsniveau. Müller spricht im Nachsatz fast orakelnd von „Übermalung“ und der „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur“[54]. Entscheidend ist aber wiederum die Revitalisierung, Redynamisierung eines Stillebens – und mitten auf der Bildfläche „der Mann mit dem Tanzschritt ICH“[55].

Unversehens drehen wir uns mit dem vielfach ausgezeichneten DDR-Totentänzer damit schon auf einem zweiten Parkett, denn die „Bildbeschreibung“ übermalt nach Auskunft Müllers unter anderem die Alkestis und Odyssee sowie Shakespeares Sturm. Selbst die Klassiker müssen also auf- und herausgefordert, müssen ‚betanzt‘ werden, damit sie nicht als zunehmend steriles Bildungs- und Kulturgut in Nischen abgeschoben und musealisiert enden. Daß die neuen Figuren die alten Meister nicht unterfordern dürfen, ist für Müller Ehrensache, auch wenn es für die Kritik bei den halsbrecherischen Choreographien etwa des Medeamaterials, der Hamletmaschine oder von Quartett nicht ohne interpretatorische Verstauchungen abgegangen ist. Glücklicherweise hat das unüberhörbare Pochen des Aaronstabs auf die römischen Kacheln der Anatomie mit Sieghild Bogumil eine geistig hochbewegliche Germanistin auf den Plan gerufen, die in ihrem einschlägigen Aufsatz[56] mit beiden Vortänzern Schritt halten kann und uns schon einleitend darüber aufklärt, wie Müller das Turnier eröffnet, lange bevor sich ein Vorhang hebt:

„So gibt sich denn der Text auch selbst ein Schauspiel auf der weißen Seite. Majuskeln, Fettdrucke, Kleinformate, massive Textblöcke gegenüber kleinen Passagen oder Dialogpartien bestimmen das Bild auch gerade im Drama Anatomie Titus. Die Sprache verstärkt von innen her seine äußere Farbigkeit und Vielgestaltigkeit. […] Die Bildschwemme und die extreme Grausamkeit der Bilder fügen eine letzte Steigerung des Schauspiels auf der Seite hinzu.“ [57]

Dann aber geht es erst richtig los. Scheinbar wüst springt Müller mit seinem berühmten Seniorpartner um, streicht, was er als „unerträglich[e] elisabethanische Konfektion“[58] empfindet, verdichtet, fährt auf dem „Manövergelände“[59] seine eigenen schweren Geschütze auf, fährt den Shakespeare-Dialogen ständig kommentierend dazwischen, kanzelt die Vorlage überhaupt als „ziemlich krude“, als „Rohmaterial“[60] ab, als Frühwerk eben, bei dem man sich all die Freiheiten gestatten dürfe, die Müller etwa seinen Macbeth- und Hamlet-Bearbeitungen keineswegs zugesteht. Sieghild Bogumil hat die dramentechnischen Eingriffe in Shakespeares „most lamentable tragedy“ aufgelistet und einer ergebnisreichen Funktionsanalyse unterzogen. Das paradoxe Resultat des Müllerschen Grobianismus läßt sich aber am besten mit den Worten des Müller-Biographen Jan-Christoph Hauschild zusammenfassen:

„Durch die Mischung von Dialog- und Erzählebene entsteht ein Text, dessen Fabel löchrig geworden, dessen dramatische Struktur zerfallen, durch den dauernden Wechsel der Perspektive fragmentarisch geworden ist, und der dennoch bis zum Schluß seiner Vorlage verpflichtet bleibt.“ [61]

Woher kommt diese befremdliche Texttreue, das Durchscheinen und Sichbehaupten des ‚Untoten‘ der Erstversion? Wenn man Müllers eigene Dramentheorie zugrunde legt, nach der ein Theatertext nicht primär Inhalte und Ideen transportiert, sondern „Melodie“ und „Beat“ ist – „gute Texte leben von ihrem Rhythmus und strahlen ihre Information über diesen Rhythmus ab, und nicht über die Mitteilung“[62] -, dann fällt es nicht schwer, eine Antwort zu formulieren. Shakespeare bleibt trotz der massiven Umorchestrierung präsent, weil Müller den in der Tat unzivilisiert-kruden, regressiv-animalischen Beat nicht ändert, sondern eher noch herausstreicht. Das Wummern und Stapfen einer monotonen, bornierten, selbsthypnotischen Rachsucht erfüllt den Club der toten Dichter und synchronisiert die Bewegungen des Dramatiker-Duos. Bei heruntergefahrener Beleuchtung sieht es so aus, als ob Müller seinen Showtanz-Partner (vor-)führte, weil etwa die Shakespeare-Dialoge zu ‚Exemplifizierungen‘ eines übergeordneten Kommentars[63] abzusinken scheinen, dann aber blitzt und pulst das Strobolicht, und zwei Furiose, einträchtig Verwildernde stecken sich an, stacheln sich auf – bis Blut fließt; und das keineswegs nur beim doppelten Schlachtfest in Rom. Vielmehr kann man zusehen, wie es über vier Jahrhunderte hinwegpumpt, von den Lebenden zu den Toten, gewiß, aber auch – Müller ist souverän genug, das zuzugeben – in Gegenrichtung: „Shakespeare übersetzen ist auch so etwa wie eine Bluttransfusion […] eine vampiristische Tätigkeit“[64].

„Shakespeare eine Differenz“[65] – selbstredend, aber auch eine Blutsbrüderschaft, ein Jungbrunnen, oder wie im Fall der Splatter-Tragödie des Titus Andronicus „eine Ausschweifung, […] die das Theater braucht“[66]: „DISMEMBER REMEMBER“[67]. Aus dem traumatisch miterlebten Tod in die Literatur und die zweifach lebensrettende Totenbeschwörung, das war der Anfang. Mit der Literatur in die Mausoleen, zum Wiedergängergelage und anderen Entgleisungen an die Gedenktafeln, darauf Foxtrott und Fraternisierung in der Druckerschwärze, das war die zweite Übung. Eine neue, und zu Recht bewunderte Beweglichkeit in den Schwerkraftfeldern der (Literatur-)Geschichte hatte sie zur Folge; aber erst die dritte und letzte Runde, der Totentanz mit sich selbst, das Endspiel Müller gegen Müller, entschied über den Lernerfolg, über Sinn und Unsinn der Passagen des Reisekaders Heiner M. ins AUSland des unversöhnlichsten Klassenfeindes.

Der selbsternannte „Neger“ hat es gewußt, lange bevor die Krebserkrankung bei ihm ausbrach: am Ende würde die Konfrontation mit dem eigenen ‚Bleichgesicht‘ stehen, der trotz aller medizinischen Intervention unerbittlich auskonturierenden Totenmaske. „Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen“, heißt es entsprechend schon in dem 1978/9 entstandenen „Mann im Fahrstuhl“, „der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben“[68]. Auch dieses Finale, die Endausscheidung – Müller blieb durch und durch Theatermann – fand dann vor Publikum und laufenden Fernsehkameras statt. „Ich schulde der Welt noch einen Toten“ war Thema und Titel der Gespräche mit Alexander Kluge, und selbst als die Stimme nur noch ein heiseres Flüstern war, wollte sie nicht brechen. Doppelgängerisch kehrte Müller in seinem letzten demetaphorisierten Totentanz aber gleichzeitig in das bildverliebte, intime und leise Medium der Lyrik zurück, in dem sich auch der ‚hoffnungslose Fall‘ Inge Müller mit erstaunlichem Beharrungsvermögen weiter bewegt hatte.

Dabei entstehen so unweinerliche Nachrufe in eigener Sache wie „Herzkranzgefäß“ – „Sei froh wenn der Infarkt dich kalt erwischt / Statt daß ein Krüppel mehr die Landschaft quert“[69]-, „Theatertod“[70] oder „Fremder Blick: Abschied von Berlin“[71], in dessen Titel die Technik Müllers auf den Begriff gebracht ist, sich gleichsam mit der Kälte des schon Abgeschiedenen ins Visier zu nehmen. Dieses unverwandte Fixieren entdeckt die grenzenlose Taubheit einer Welt – „Graugelb die Wolken ziehn am Fenster hin / Weißgrau die Tauben scheißen auf Berlin“[72] -, der die Auf- und Abtritte von unseresgleichen ‚scheißegal‘ sind, oder verfolgt wie in „Vampir“ das Erlöschen des kreativen Saugreflexes und der Befähigung zum schlitzohrigen Powerplay mit der herrschenden Nomenklatura: „Zerstoben ist die Macht an der mein Vers / Sich brach wie Brandung regenbogenfarb“[73]. Das ‚todesmutige‘ Hinsehen bringt kurz vor Toresschluß aber auch das Gegenteil der Torschlußpanik zustande, nämlich eine Reintegration und ein Wiederzusammenwachsen der Ich-Dissoziationen:

Nach der letzten
Endoskopie in den Augen der Ärzte
War mein Grab offen Beinahe rührte mich
Die Trauer der Experten und beinahe
War ich stolz auf meinen unbesiegten
Tumor
Einen Augenblick lang Fleisch
Von meinem Fleisch [74]

Zerstört und zerfressen, aufgegeben von den Spezialisten, denen gegenüber sich der Patient gleichwohl als überlegener Diagnostiker behauptet, wird Müller „beinahe“ und „einen Augenblick lang“ wieder so ganz und so heil, daß er das mörderische Andere als Teil seiner selbst, als ‚Fleisch von seinem Fleisch‘ und Inkarnation der eigenen Unbesiegbarkeit erleben kann.

Vielleicht markiert diese ebenso ephemere wie instabile Intuition des Nicht-mehr-mit-sich-Zerfallenseins die äußerste Reichweite der Müllerschen Ästhetik. Ihr ist die ganze Welt eine rettungslos fidele Krebsstation, ein bühnenreifes Zusammenspiel aggressiver Metastasen namens Titus oder Saturnin, von Tamora bis zum ‚Unschuldslamm‘ Lavinia, die, ganz unaufgeregt einem Menschenopfer beiwohnend, „NICHT ZUM ERSTENMAL DEM FELDHERRNVATER / DAS BLUT DER FEINDE VON DER SIEGERHAND“[75] leckt. Ob die Kunst in diesem Hexenkessel je ein Darstellungsmonopol besessen hat, ist mehr als zweifelhaft, denn die ideologischen Schönfärbereien des Raben-, Pech- und Aaronschwarzen haben keine kürzere Firmengeschichte. Der derzeitige Branchenführer der Weißwäscher ist die Politik, deren Rhetorik der Weltverbesserung den Webfehler des Malignen und Unheilbaren naturgemäß nicht wahrhaben will. Bekanntlich hat Müller, der als sozialistischer Kreuzritter gegen die Drachensaat zu Felde gezogen war, des längeren mit dieser Weltanschauung geliebäugelt[76], bis er sich – übrigens ohne erwähnenswerte Abstriche in Sachen Militanz – zu einer Position bekehrte, die den Dialog zwischen Kunst und Politik für einen „Irrsinn“ hält, „bei dem es nur zu wechselseitigen Beschädigungen kommen kann“[77].

Man hört dieser Formulierung die Überzogenheit und den Extremismus an, der Müller als Kind des enttäuschten, aus allen utopischen Wolken gefallenen 20. Jahrhunderts ausweist, als das er solange Abwehrkräfte gegen die permanente Indoktrination mobilisieren mußte, bis das gesamte Werk zum Antikörper geworden war. In die Wiege gelegt war ihm diese korrektive Parteilichkeit wohl kaum, denn sein Pessimismus entspringt weniger einem angeborenen Naturell als jener empörenden Optik der Nachkriegszeit, die dem bösen Blick auf die Welt in Ost und West eine ‚Scheuklappe‘ verpaßt hatte. Nach Heinz Schlaffer gehört es denn auch zu den bleibenden Verdiensten Müllers, „böse Gedanken (die für einen Dichter oft die besseren wären)“ nicht systemkonform unterdrückt, sondern sich die „notwendige Freiheit des poetischen Zynismus“ herausgenommen zu haben, „auf den deutsche Autoren seit einem halben Jahrhundert entschlossen verzichten“[78]. Nur hat der sächsische Protestant dafür den Preis bezahlt, seine „postnihilistischen Brückenköpfe“[79] wegen Unhaltbarkeit wieder und wieder räumen zu müssen und bei seinen Totentänzen den Akzentumsprung auf die zweite Silbe nur noch (allzu)gut getarnt zustande zu bringen.

Das Auge kann nämlich aus zwei konträren Gründen tränen, und Müller hat sich zu Lebzeiten wiederholt darüber beschwert, daß die grotesken Clownerien und die verkappte Klamottage mancher Stücke in der interpretatorischen Lektüre ebenso unter den Tisch fielen wie bei den durchweg ‚tiefsinnigen‘ Inszenierungen[80]. Sein Ideal war nicht Polyphem, sondern Argus, ein multiperspektivisches, facettenreiches Sehen von sich angeblich ausschließenden Standpunkten aus, der offenäugige, nicht offenaugige transantagonistische, vielleicht sogar transagonistische Blick:

„Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich, Schaum vor meinem Mund, meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. […] Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf Messer und Wunde Zahn und Gurgel Hals und Strick.“ [81]

Wir kennen dieses Spiegelkabinett des Hamletmaschinisten Müller, in der der Volksaufstand des 17. Juni aufersteht, schon aus der theatralen Initiationsszene seiner „Todesanzeige“: dieselbe ‚wuchernde‘ Vervielfältigung des künstlerischen Ich, dasselbe Beharren darauf, sich im Multiplen changierender Täter-Opfer-Paarungen reflexiv und reflektierend wieder einholen zu können. Handelt es sich dabei um das Hirngespinst eines halluzinierenden Spielleiters, eines an Omnipotenz- bzw. Omnipräsenzphantasien leidenden Nachstellers von Geschichte? Ist am Ende das zurückgekämmte Krause in den Kopf gewachsen, bis die Synapsen blindlings zu feuern begannen: „EINE BLTZSPUR WEISS IM BLACK“ [82]?

„Ich hab ja keine Ideen“, schallt es aus Müllers „Dritter Welt“[83] zurück, „ich hab nie Ideen gehabt. […] Ich schreibe so viel ab, daß kein einzelner es merken kann“[84]. Hier bedient sich ein mastermind der zeitgenössischen Dramatik beim Entwicklungsländerstereotyp schamloser Abkupferei. Trickreich die nächste Maske vors Gesicht geklappt, gibt er den kulturellen Eierklau. Da endlich kommt Heiterkeit auf. Es lachen die Hühner.[85]

Anmerkungen:
[1] Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd.1, Frankfurt/M. 1986, S. 93.
[2] Ebd., S. 151.
[3] Ebd., S. 95.
[4]Jonathan Kalb, The Theater of Heiner Müller, Cambridge 1998, S. 1.
[5] Frauke Meyer-Gosau, „Monument Müller. Ein Bild und seine Spiegelungen“, in: Text und Kritik 73 (1997), S. 8-21, hier 10.
[6] Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd. 3, Frankfurt/M. 1994, S. 157.
[7] Ebd., S. 159.
[8] „Was der Text sagt, sagt der Text. Das muß der Schauspieler nicht noch sagen oder der Regisseur jetzt noch auslegen und interpretieren. […] Die Interpretation ist die Arbeit des Zuschauers, die darf nicht auf der Bühne stattfinden. Dem Zuschauer darf diese Arbeit nicht abgenommen werden. Das ist Konsumismus, dem Zuschauer diese Arbeit abzunehmen, das Vorkauen“ (Müller, Irrtümer 1, S. 153).
[9] Zit. nach Jan Christoph Hauschild, Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 6.
[10] Heiner Müller, Ich bin ein Neger. Eine Diskussion mit Heiner Müller, 1994.
[11] Heiner Müller, Die Prosa/Werke, hg. von Frank Hörnigk, Bd. 2, Frankfurt/M. 1999, S. 167.
[12] Heiner Müller, Herzstück/Texte, Bd. 7, Berlin 1983, S. 69.
[13] „Darum geht es bei der Trennung der Kommunisten von der Macht – um die Emigration in den Traum. Dadurch wird eine Idee wieder eine Macht. […] Der Kommunismus existiert in der Traumzeit, und die ist nicht abhängig von Sieg oder Niederlage“ (Heiner Müller, ‚Jenseits der Nation‘. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Berlin 1991, S. 26); vgl. auch Müller, Irrtümer 3, S. 225.
[14] Heiner Müller, Prosa, S. 184; vgl. ebd., S. 181-182.
[15] Heiner Müller, Shakespeare Factory, Bd. 2, Berlin 1989, S. 142.
[16] Ebd., S. 138.
[17] Ebd., S. 151.
[18] Ebd., S. 189.
[19] Ebd., S. 186.
[20] Ebd., S. 142.
[21] „So dichtet Heiner Müller sich und Shakespeare zum welttheatralischen Dioskurenpaar hoch“ (zit. nach Marga Munkelt, „Titus Andronicus: Metamorphoses of a Text in Production“, in: Shakespeare. Text, Language, Criticism. Essays in Honour of Marvin Spevack, ed. Bernhard Fabian, Kurt Tetzeli von Rosador, Hildesheim 1987, S. 226).
[22]Heiner Müller, Shakespeare Factory, S. 153.
[23] Ebd., S. 152.
[24] Ebd.
[25] „Es gibt den Vorwurf von Faust an Mephisto: Du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin. Das ist eine Haltung, von der ich mich nicht freisprechen kann. Die ist gewachsen in den zwei Diktaturen, die ich erlebt habe. Man war einem Erfahrungsdruck ausgesetzt, der einen dazu bringt, sich eine besonders intakte Rüstung anzulegen – gegen das Schicksal von Tausenden, aber auch von Einzelnen. Man entwickelt einen Zynismus gegenüber der menschlichen Existenz“ (Müller, Irrtümer 3, S. 166-167). Erstaunlicherweise hat es sich Christoph Hein in seinem Nachruf „Wunden. Für Heiner Müller zum 9.1.1996“ angelegen sein lassen, den Verblichenen vor sich selbst in Schutz zu nehmen: „Müller war kein Zyniker“ (Ich Wer ist das Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell. Für Heiner Müller. Arbeitsbuch, hg. Frank Hörnigk u.a., Berlin 1996, S. 24).
[26] „Wir [als Künstler] leben davon, daß die Welt so katastrophal und konfliktreich ist. […] Kunst kann ja eine Krankheit sein. […] Wir müssen mit dieser Krankheit und der Paradoxie, daß wir Parasiten in der Welt sind, indem wir sie ausbeuten, leben“ (Müller, Irrtümer 1, S. 57).
[27] Ebd., S. 115.
[28] Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln 1994, S. 495.
[29] Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd.2, Frankfurt/M. 1990, S. 89.
[30] Müller, Irrtümer 3, S. 157.
[31] Müller, Irrtümer 2, S. 35.
[32] Alexander Kluge, Heiner Müller, ‚Ich schulde der Welt einen Toten‘. Gespräche, Hamburg 1995, S. 60.
[33]Müller, Shakespeare Factory 2, S. 222.
[34] Ebd., S. 191.
[35] Norbert Otto Eke, „‚Der Neger schreibt ein anderes Alphabet‘. Anmerkungen zu Heiner Müllers Denkspiel Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 110 (1991), 294-315, hier S. 305.
[36] Vgl. Müller, Prosa, S. 188.
[37]Müller, Shakespeare Factory 2, S. 223.
[38] Müller, Irrtümer 2, S. 13.
[39]Müller, Shakespeare Factory 2, S. 200.
[40] Richard Herzinger, „Der Tod ist die Maske der Utopie. Heiner Müller und die Mission des romantischen Modernismus“, in: Text und Kritik 73 (1997), 51-72, hier S. 65.
[41] Frank M. Raddatz, „Der Cluster der Toten“, in: Ich Wer ist das Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell. Für Heiner Müller. Arbeitsbuch, hg. Frank Hörnigk u.a., Berlin 1996, S. 83-88, hier S. 84.
[42] Müller, ‚Jenseits der Nation‘, S. 31.
[43] Ebd., S. 23.
[44] Heiner Müller, Die Gedichte/Werke, hg. Frank Hörnigk, Bd. 1, Frankfurt/M. 1998, S. 247-248.
[45] Ebd., S. 43.
[46] Ebd., S. 200.
[47] Müller, Irrtümer 2, S. 14.
[48] Heiner Müller, „Todesanzeige“, in: Prosa, 95-103.
[49] Ebd., S. 99.
[50] Müller, Irrtümer 2, S. 64.
[51] Ebd.
[52] Heiner Müller, „Bildbeschreibung“, in: Prosa, 112-119.
[53] Ebd., S. 115.
[54] Ebd., S. 119.
[55] Ebd.
[56]Sieghild Bogumil, „Theoretische und praktische Aspekte der Klassiker-Rezeption auf der zeitgenössischen Bühne: Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“, in: Forum Modernes Theater 5 (1990), 3-17.
[57] Ebd., S. 3.
[58] Müller, Krieg ohne Schlacht, S. 324.
[59] Ebd.
[60] Müller, Irrtümer 1, S. 147.
[61] Hauschild, Müller, S. 410.
[62] Müller, ‚Jenseits der Nation‘, S. 39.
[63] Vgl. Bogumil, „Aspekte der Klassiker-Rezeption“, S. 5.
[64] Müller, Irrtümer 1, S. 145.
[65] Heiner Müller, „Shakespeare Eine Differenz“, in: Shakespeare Factory, Bd. 2, Berlin 1989, 227-230.
[66] Müller, Krieg ohne Schlacht, S. 324.
[67]Müller, Shakespeare Factory 2, S. 225.
[68] Müller, Prosa, S. 109-110.
[69] Müller, Gedichte, S. 249.
[70] Ebd., S. 286.
[71] Ebd., S. 287.
[72] Ebd.
[73] Ebd., S. 317.
[74] Ebd. S. 325.
[75]Müller, Shakespeare Factory 2, S. 129.
[76] Vielzitiert in diesem Zusammenhang Müllers „Selbstkritik“ aus dem Gedicht „Fernsehen“: „Meine Herausgeber wühlen in alten Texten / Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt Das / Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT / Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod / Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute / Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit / Die vor vierzig Jahren mein Besitz war / Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend“ (Gedichte, S. 232-233).
[77] Müller, ‚Jenseits der Nation‘, S. 25.
[78) Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002, S. 151.
[79] Raddatz, „Der Cluster der Toten“, in: Ich Wer ist das Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell. Für Heiner Müller. Arbeitsbuch, hg. Frank Hörnigk u.a., Berlin 1996, S. 83-88, hier S. 87.
[80] „Ich finde fast alle meine Stücke relativ komisch. Ich wundere mich immer wieder, daß diese Komik so wenig bemerkt und benutzt wird. […] QUARTETT ist doch auch wirklich eine Komödie. Aber es gibt eine so feierliche Haltung dem Text gegenüber, die die Leute daran hindert, die Klamotte zu entdecken. Dabei ist doch auch Charleys Tante drin“ (Müller, Irrtümer 1, S. 139); vgl. auch Irrtümer 2, S. 131, oder das Selbstporträt Müllers als chaplinesker „böser Engel“ in Krieg ohne Schlacht (S. 497).
[81] Heiner Müller, „Die Hamletmaschine“, in Stücke 2/Werke, hg. Frank Hörnigk, Bd. 4, 543-554, hier S. 550-551.
[82] Müller, Shakespeare Factory 2, S. 140.
[83] Immer wieder hat sich Müller mal als Sprecher, mal als Parlamentär, mal als apokalyptischer Reiter der Dritten Welt zu erkennen gegeben, die zugleich als postproletarisches Elendsquartier und Nemesis des Spätkapitalismus fungiert, „HEIMHOLEND IN DAS NICHTS DIE ERSTE WELT“ (Shakespeare Factory 2, S. 141). Da er sie, ohne mit der Wimper zu zucken, auch in Mitteleuropa verortete – „was hier nützlich war zum Schreiben, ganz ohne Moral und Politik, war, daß man in einer Dritte-Welt-Situation lebte. Der Sozialismus in der DDR […] bedeutete weiter nichts als die Kolonialisierung der eigenen Bevölkerung“ (Irrtümer 3, S. 98) – müßte man sie rückschauend sicher eher als globale Heimsuchungsmetapher denn als relativ exakt umreißbare geopolitische Konfliktzone verstehen.
[84] Müller, Irrtümer 1, S. 127.
[85] Der Bezug aufs Federvieh reicht über das Redensartliche hinaus, denn „HÜHNERGESICHT“ (Prosa, S. 101-102) ist ein weiterer Müller-Begleiter und Müller-Doppelgänger, dem in einer Wunscherfüllungsphantasie gleich dreimal der Garaus gemacht wird. „Er hat in meinen Träumen keinen Platz mehr, seit ich ihn getötet habe“, vermeldet der Sprecher der „Todesanzeige“ triumphierend (Prosa, S. 102). Aber ‚Hühnergesicht‘ wird allein deshalb nicht mehr vorstellig, weil es ihn jetzt wesentlich unauslöschlicher als zuvor, nämlich schwarz auf weiß gibt.

Veröffentlicht in: Wespennest, Nr. 133. Wien 2003, S. 40-48.