Lexikonartikel Philip Larkin (2002)

Philip Larkin (9.9.1922 – 2.12.1985)

Daß Philip Larkin nach Auskunft seiner Biographen in der ersten Lebenshälfte ein schwerer Stotterer war, ginge niemanden etwas an, wenn seine literarische Karriere und sein Arbeitsstil nicht durchaus vergleichbare Eigenheiten aufwiesen. Stotternd nämlich betritt er die Bühne, nimmt mit Jill (1946) und A Girl in Winter (1947) zwei Anläufe, um sich wie sein Studienfreund Kingsley Amis als Romancier zu etablieren, verhaspelt sich aber beim dritten Versuch hoffnungslos. Mit dem Manuskript muß er auch den Traum vom Wegerzählen seiner Sprachlosigkeit und dem Entkommen in jenes „wonderful 500-words-a-day on-the-Riviera life that beckons us all like an ignis fatuus“ begraben; statt dessen entscheidet er sich für die lautlose Kärrnerarbeit des Bibliotheksdienstes, der ihn über die Stationen Leicester und Belfast 1955 als Leiter der Universitätsbiliothek im nordenglischen Hull ankommen läßt, seinem Fast-Zuhause für die folgenden dreißig Jahre, das er in „Here“ fast liebevoll beschrieben hat.

Gedichte bringt der zeitlebens beruflich eingespannte Larkin nach Feierabend zu Papier, aber auch hier ist der Zungenschlag zunächst der eines anderen. In The North Ship (1945) bevormundet ihn William Butler Yeats, danach hört man Thomas Hardy, bevor sich 1955 mit The Less Decieved das scheinbar umgangssprachliche und antipoetische ‚Larkinese‘ zu Wort meldet, dem sein Autor eine in der englischen Lyrik der zweiten Jahrhunderthälfte beispiellose Breitenwirkung – von den Collected Poems (1988) werden binnen Tagesfrist zehntausend Exemplare abgesetzt – zu verdanken hat.

Trotzdem bleibt Larkin mundfaul, veröffentlicht in großen Zeitabständen noch zwei Sammlungen – The Whitsun Weddings (1965) und High Windows (1974) – und bringt es damit auf eine durchschnittliche Jahresproduktion von nicht einmal zehn Gedichten. Das liegt daran, daß das kreative Stottern keineswegs ausgestanden ist, nachdem er sein Medium entdeckt hat. Die Arbeitskladden und ihre exemplarischen Transkriptionen in A. T. Tolleys Larkin at Work führen vielmehr ein agonales Schreiben vor, das am Anfang des Schaffensprozesses vielleicht gerade über die korrekte Anfangszeile eines späteren Zwei-, Dreiseitentextes verfügt, bevor es ‚auswandert‘, und über Tage oder Wochen immer wieder neu an- und einsetzen muß wie ein Kind, das mitten im Satz über seine Konsonanten stolpert. Die Bleistiftspuren bezeugen damit den marathonösen Durchhaltewillen des Autors sowie sein stilsicheres Gespür für die richtige Wendung, denn Rückkorrekturen gibt es so gut wie keine. Und deshalb steckt in dem typisch Larkinesken Understatement: „Once I have said that the poems were written in or near Hull, Yorkshire, with a succesion of Royal Sovereign 2B pencils […] there seems little to add“ in der Tat eine erschöpfende Auskunft.

Larkin arbeitet nicht nur geographisch an der Peripherie, er schreibt als Außenseiter, der Gemeinsamkeiten mit dem ‚Movement‘ wiederholt in Abrede gestellt hat, auch gegen zentrale Überzeugungen seiner Zeitgenossen an, weshalb sein Dichtungsbegriff als dezidiert anti-modernistisch, anti-elitär und anti-akademisch zu gelten hat. In seinen eigenen Worten wächst sich das zum Vorwurf eines Jahrhundert-Irrtums aus: „In this century English poetry went off on a loop-line that took it away from the general reader. Several factors caused this. One was the aberration of modernism, that blighted all the arts. One was the emergence of English literature as an academic subject, and the consequent demand for a kind of poetry that needed elucidation.One, I am afraid, was the culture-mongering activities of the Americans Eliot and Pound.“

Aus dieser drastischen Diagnose folgt eine literarische Praxis des Anders- und Besser-machens, die zu denken geben muß. Denn Larkins Gedichte sind zugänglich, ohne ihre Leserfreundlichkeit mit Komplexitätseinbußen zu bezahlen; sie bedienen sich traditioneller Techniken wie des Reims und haben doch nichts Artifizielles oder gar Manieriertes. Vielmehr glaubt man sich in dramatischen Monologen wie „Toads“, „Church Going“ oder „Aubade“, in Momentaufnahmen wie „The Building“, „At Grass“ oder „Mr Bleaney“ mitten in der Alltagswelt zu befinden, deren Bewohnder denn auch kein Blatt vor den Mund nehmen. Gleichwohl erweist sich bei genauerem Hinsehen selbst ein aus lauter Rohheiten zusammengesetztes Gedicht wie „The Card-Players“ oder das obszöne „Sunny Prestatyn“ als so subtiles und ästhetisch feinnerviges Gebilde, daß der Anti-Akademiker Larkin die Interpreten mit seinen erklärten ‚Volkstümlichkeiten‘ in hellen Scharen angezogen hat.

Die bissigen Karikaturen der Zunft, die er etwa in „Posterity“ und „Naturally the Foundation will Bear Your Expenses“ abgelieferte, haben dieser Attraktivität genausowenig Abbruch tun können wie die allenfalls hier und da von schwarzem Humor abgepufferte Trostlosigkeit der Larkinschen Weltsicht, die vielleicht in der lyrischen Parabel „Next, Please“ am direktesten zum Ausdruck kommt. In Anspielung auf die glücksverheißende Redensart „When my ship comes home…“ läßt der Autor hier eine ganze Armada solcher Wunscherfüllungsgaleonen aufkreuzen und – vorbeisegeln. Am Ende müssen sich die erwartungsfrohen Zuschauer ausnahmslos eingestehen: „Only one ship is seeking us, a black- / Sailed unfamiliar, towing at her back / A huge and birdless silence. In her wake / No waters breed or break.“

Der wie immer lakonische Kommentar Larkins zur existenziellen Unversöhnlichkeit seines Werks lautet: „Deprivation is for me what daffodils were for Wordsworth“. Und im Schutze dieses Pessimismus, dessen Unheilsgewißheit enttäuschungsresistent macht und die Sensibilität vor emotionalen Zerreißproben schützt, kommt ein eingefleischter Junggeselle – jazzbegeistert, trinkfest und alles andere als prüde – durchaus komfortabel in die Jahre, entfaltet sich aber auch unaufhaltsam ein literarisches Doppelleben, das man – mit einem weiteren Gedichttitel Larkins – nur als „Success Story“ beschreiben kann. Denn mit quantitativem Minimaleinsatz – drei Gedichtbänden und einer Sammlung von Gelegenheitsarbeiten (Required Writing, 1983) – fährt Larkin den maximalen Ertrag ein. Sein Briefkopf weist schließlich sieben Ehrendoktorate und diverse andere Auszeichnungen auf, in der literarischen Szene genießt er den Status einer nationalen Ikone wie vor ihm allenfalls T. S. Eliot, und noch im August 1984 wird dem schon krebskranken Dichter das Amt des Poeta laureatus angetragen, auf das er zugunsten von Ted Hughes mit der schonungslosen Begründung verzichtet: „Poetry […] left me about seven years ago, since when I have written virtually nothing. Naturally this is a disappointment, but I would sooner write no poems than bad poems“.

So steht am Anfang dieser Biographie die Geburt der Poesie aus dem Sprachfehler und an ihrem Ende die Integrität des Verstummens, eine beredte Geste der Schadensabwendung angesichts dessen, was sich dazwischen ereignet hat. Die Interpreten allerdings sind im Begriff, ihre Schonfrist aufzukündigen und damit die bösen Ahnungen des ‚Hermit of Hull‘ zu bestätigen, der einmal notierte: „The reviews […] have been far too favourable; very soon somebody will cut me down to size.“ Die inzwschen veröffentlichte Korrespondenz und die Biographie von Andrew Motion haben diesen Stimmungsumschwung ungewollterweise ausgelöst. Sie lassen nämlich keinen Zweifel daran, daß es um die political correctness des Thatcher-Bewunderers und ‚Sexisten‘ Larkin schlecht bestellt ist, so schlecht sogar, daß der eine oder andere Kritiker vor sittlicher Empörung schier ins Stottern geraten möchte.

Larkin, Philip. Collected Poems, ed. Anthony Thwaite. London: Marvell/Faber 1988.
– Required Writing: Miscellaneous Pieces, 1955-1982. London: Faber & Faber 1983.
– Selected Letters, ed. Anthony Thwaite. London: Faber & Faber 1992.
Motion, Andrew. Philip Larkin: A Writer’s Life. London: Faber & Faber 1993.
Regan, Stephen (ed.). Philip Larkin. London: Macmillan 1997.
Rossen, Janice. Philip Larkin: His Life’s Work. New York: Harvester 1989.
Swarbrick, Andrew. Out of Reach: The Poetry of Philip Larkin. London: Macmillan 1995.
Tolley, A. T. Larkin at Work. A Study of Larkin’s Mode of Composition as Seen in His
Workbooks. Hull: The University of Hull Press 1997.

In: Metzler-Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren. Stuttgart; Weimar 2002.