Frank Müller: Wer ist Klaus Steintal? (2018–2024)

Klaus Steintal tritt als Ulrich Horstmanns Pseudonym in Erscheinung und geistert fortan als literarische Figur durch dessen Werke. Später schwingt er sich zum Herausgeber von Horstmanns Schriften und widerborstigen Interviewpartner auf. Im wiedergekehrten Selbstmörder Steintal überlagern sich eine Poetik des Suizids, apokalyptische Visionen und die lustbetonte Simulation des eigenen Verschwindens. Anhand der folgenden Wegmarken können die Kontinuität, Produktivität und Vielschichtigkeit der Doppelgängerbegegnung in Horstmanns Werk greifbar werden.

Der 2018 verfasste Beitrag wurde in den folgenden Jahren aktualisiert.


1778
: Im Januar dieses Jahres reist der Schriftsteller Jacob Michael Reinhold Lenz ins elsässische Waldersbach zu dem Pfarrer der Grafschaft Steintal, Johann Friedrich Oberlin. Georg Büchner hat die Reise und den sich verschlechternden Geisteszustand Lenzens in seiner Erzählung Lenz (1839) literarisch verarbeitet.[1] Horstmann hat sich vermutlich von jener Szene inspirieren lassen, in der die literarische Figur Lenz von der Rückseite des Gebirges, dort, „wo die Täler sich in die Ebene ausliefen“, durch die menschenleere Bergwelt und bei einbrechender Dunkelheit ins Steintal nach Fouday gelangt.

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1972: Klaus Steintal debütiert als Pseudonym Horstmanns mit den beiden Prosatexten Höllenfahrt und Unter der Großen Ebene in der von Ulrich Horstmann und Jürgen Gross herausgegebenen Literaturzeitschrift Aqua Regia.

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1976: Unter dem Titel „Er starb aus freiem Entschluss“ gibt der Literaturwissenschaftler Ulrich Horstmann die nachgelassenen Schriften des jungen Selbstmörders Klaus Steintal heraus. Dessen literarische Versuche deutet Horstmann als „Fragmente und Sedimente einer vorzeitig zu Ende gebrachten Ontogenese“. Laut Herausgeber – Horstmann wurde am 31.5.1949 im westfälischen Bünde geboren – starb der am 15.3.1949 ebendort geborene Steintal durch einen absichtlich herbeigeführten Frontalzusammenstoß in den Trümmern seines Wagens.

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1976/77: Steintals „Er starb aus freiem Entschluss“ (1976) wird in drei Rezensionen gewürdigt. Darunter ein Text eines gewissen Ulrich Hartmann (Pseud.) in den Neuen Deutschen Heften sowie eine unwissende Besprechung in der Bünder Zeitung (»Er starb aus freiem Entschluss«: Kurzgeschichten – Gedichte – Fragmente. Dr. Ulrich Horstmann schreibt über den literarischen Nachlaß des Bünders Klaus Steintal).

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1980: Das Hörspiel Gedankenflug versetzt Steintal in die Rolle des Raumschiff-Kommandanten der „Arche III“, dessen einziger Kommunikationspartner die virtuelle Stimme des Bordcomputers Berkeley ist. Nachdem er einige Überlegungen über die Realität der Außenwelt angestellt hat (an den Computer gewandt: „Ich bin deine Vorstellung“), verstirbt er und wird Teil von Berkeleys Datenmuster.

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1981: Im Theaterstück Würm finden sich die Überlebenden von „Nachkrieg III“ in einem heruntergekommenen Museum zusammen. Unter ihnen befindet sich der „drittklassige( ) Aushilfspoet“ Steintal. Dieser vernichtet die Kunstwerke, setzt Höhlenbilder an ihre Stelle, und wird dafür vom Museumsdirektor erschlagen. – Im Stück Terrarium bevölkert Steintal mit den letzten Exemplaren der Gattung eine Anlage für Menschenhaltung, einen galaktischen Zoo. Sein Versuch, die zur Affenhorde dezivilisierten Menschen zu einer neuen Kultur zu führen, misslingt; er perpetuiert doch nur die alte Herrschaft des getöteten Alphamännchens. – „Wer Qual und Leid ausrotten will, muß zunächst ihren Verursacher, den Menschen, ausrotten“. In der Erzählung Steintals Vandalenpark preist der Zivilschutzbeamte Klaus Steintal die Schönheit der Menschenleere und plädiert für den ungehinderten Einsatz der atomaren Vernichtungspotenziale.

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1982: Als Parodie auf die ökologische Vision der Zeit entwirft das Hörspiel Grünland eine Gesellschaft, die den Ersatzgott „ÖKOL-ÖKOLOG“ anbetet. Ähnlich wie in Terrarium übernimmt Steintal die Rolle des befreienden Aufklärers. Durch den Sturz des theokratischen Regimes ebnet er jedoch nur einem neuen, durch Technologiegläubigkeit geprägten Despotismus den Weg.

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1983: „Das Korrekturlesen übernahm dankenswerterweise Herr K. Steintal.“, heißt es auf einer der ersten Seiten von Ulrich Horstmanns Habilitationsschrift Ästhetizismus und Dekadenz, eines Buchs, das mit der Literatur des fin de siècle „Beschreibungskategorien für eine nicht-humanistische, menschenferne und anthropofugale Kunst“ untersucht. – In seiner Hauptschrift Das Untier verknüpft Horstmann Suizid und Apokalypse. Der Selbstmord, so heißt es, sei ein „subjektivistisch verkürzter Reflex apokalyptischer Sehnsüchte“.

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1984: Im Theaterstück Silo – dem dritten Stück der „Trilogie aus der Nachgeschichte“ – versucht Steintal, das Zünden der letzten Atomrakete zu sabotieren. Er verstirbt, nachdem er angeschossen und schwer verletzt gezwungen wurde, doch beim Raketenstart behilflich zu sein.

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1985: Steintal und seine geschiedene Frau Barbara werden einem extraterrestrischen Petitionsausschuss vorgeführt, der darüber zu befinden hat, ob die Erde von einer „Sanierungsmaßnahme“ (vulgo: Zerstörung) bewahrt bleibt. Am Ende des Hörspiels Petition für einen Planeten werden beide Bittsteller exekutiert, noch bevor sie die Situation verstehen und einordnen können.

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1989: Ulrich Horstmanns Gedicht „Doppelgänger“ – enthalten im Band Schwedentrunk – inszeniert das zweite Ich im Spannungsfeld von lustvoller Selbstentgrenzung und Einschränkung der eigenen Möglichkeiten.

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1990: Im Roman Patzer verteilt Horstmann seinen Weggefährten Steintal auf die Figuren Steinchen und Sterntaler.

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1995: Horstmanns Prosaband Konservatorium wird nach dem „plötzliche(n) Ableben des Autors“ von dessen ehemaligem Doktoranden Klaus Steintal veröffentlicht. Im Nachwort referiert Steintal eine Passage aus Horstmanns Testament. Darin wird der akademische Schüler mit der Herausgabe des literarischen Nachlasses betraut, weil, so die Formulierung Horstmanns, „für mich der Name Klaus Steintal einen lebensgeschichtlichen Wendepunkt, einen Aufbruch“ markiert.

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2000: Rajan Autze und Frank Müller veröffentlichen die Monografie Steintal-Geschichten, eine Spurensuche, die Horstmanns Werk aus der Doppelgängerbegegnung rekonstruiert. Nachdem er Ulrich Horstmann den Publikationsplan offengelegt hat, erhält Frank Müller einen Brief von – Klaus Steintal. Darin schreibt Steintal, Müller könne „von Glück sagen“, dass er, Steintal, den Brief an Horstmann „gerade noch einmal abgefangen“ habe. Horstmann wäre sonst mit seinem Ego „nicht mehr durch die Tür“ gekommen.

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2001: In dem online publizierten Gespräch Zwischen Melancholie und Makulatur tritt Steintal erstmals als Interview-Crasher auf.

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2002: In J – Ein Halbweltroman fahren die Handelnden kreuz und quer durch Münzmar, eine aus Münster und Marburg zusammenfabulierte Phantasiestadt. Dabei geht es auch über die Steintaler Allee (und in das dort gelegene Apartment 112), auf der vor dem inneren Auge des Psychiaters Q. Rare ein Kampfflugzeug aufsetzt. Nicht zufällig birst der Roman förmlich von Doppelgänger- und Spiegelmotiven, Paaren, Zwillingen, Halbbrüdern und Halbschwestern.

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2005: Ulrich Horstmanns Gedicht „Steckbrief K.S.“ kriminalisiert den Doppelgänger. Der Gesuchte, so heißt es, sei „ein Parasit, sich mästend an dem implantierten Hirngespinst, / sich an seinen Hirngespinsten mästen zu können“.

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2011: Der Gedichtband Kampfschweiger wurde „ausgewählt und mit einem Vorwort versehen“ von Klaus Steintal. In seiner Vorbemerkung „Der verkappte Mann“ verrät Steintal, der inzwischen verstorbene Ulrich Horstmann sei in Wirklichkeit kein Geringerer als Horst-Ulrich Mann – ein unehelicher und „in ostwestfälischem Abgeschobensein aufgewachsene“ Sohn des Schriftstellers Klaus Mann. Wie schon bei der Herausgabe von Konservatorium, so hat Steintal eigenen Angaben zufolge auch hier großzügige Streichungen im „publikationsfertig hinterlassene(n) (…) Manuskript“ vorgenommen, bei denen „immerhin fast jeder zweite Text Bestand hatte“.

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2015: In den Aphorismen der Online-Publikation Damoklesschwertfischfangschiffbrüchige führen die beiden ,Autoren‘ Horstmann und Steintal einen spannungsreichen Dialog. Von diesem ist in der drei Jahre später erschienen Printausgabe Schlußlichterloh, im dem Horstmann die zwischen 2010 und 2015 entstandenen Aphorismen der Online-Ausgabe verarbeitet, nur ein einziger Satz erhalten geblieben: „Im Steintal, wo sonst, will er noch einmal aufwachen, der Penner.“ – Im Interview Wo bleibt er denn, der Versarger? nimmt Horstmann eine übergeordnete Perspektive ein und äußert sich wie folgt zu Steintal: „Die Doppelgänger sind in der Regel Loser; sie haben Blitzableiterfunktion, damit die Erfolglosigkeit nicht ihre Schöpfer trifft. Bei Klaus Steintal gibt es dieses Gefälle nicht. Da ich in deutschen Literaturgeschichten nicht vorkomme, ist er mein Kumpel geworden. Als untergehakte Veteranen steuern wir die nächste Nebelbank an.“ – In Michael Kremers „Kleine(m) Horstmann-ABC“ (enthalten im von Alexander Eilers herausgegebenen Sammelband Entlassungspapiere) findet sich der Eintrag „K wie Klaus Steintal“.

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2018: „Der Tod, egal ob durch Fremdeinwirkung, Organversagen oder von eigener Hand, wird totgeredet. Wir brauchen mehr Rücksichtnahme, und vor allem brauchen wir ein Mitspracherecht für die, die auf sich Rücksicht nehmen können, die Exlebhaften und Postmoribunden. Deshalb habe ich mir erlaubt, Klaus Steintal ins Spiel zu bringen“. Zu seiner Einstellung zu Selbstmord und aktiver Sterbehilfe befragt, zieht Ulrich Horstmann seinen Doppelgänger als kompetenten Gesprächspartner hinzu. Allerdings entbrennt im Laufe des Interviews Suicide by knight oder Was macht Ockams Rasiermesser? ein Streit um die Originalität und Urheberschaft von Horstmanns/Steintals Hervorbringungen, den das zweite Ich nicht überleben soll.

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2019: Wer fördert hier eigentlich wen? In Band 3 von Horstmanns Gesamtwerk (Gedichte und Aphorismen) erscheint neben dem Logo des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) das vom Wiener Künstler Wolfgang Sinwel entwickelte Logo der in Phoenix, Arizona ansässigen „Klaus Steintal Foundation“.

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2021: Horstmanns Gedicht- und Aphorismenband Schwermutmacher (2021) erscheint mit folgender Schlussbemerkung: „Als akademischer Putzerfisch bei den Grossen – Edgar Allan Poe, Oscar Wilde, Ted Hughes, Philip Larkin, J.M. Coetzee – im Einsatz, hat Ulrich Horstmann sich doch auch selbst freizuschwimmen versucht, nach seinem Auftauchen unter den Kleist-Preisträgern (1988) aber womöglich Schuppen gelassen. Vielleicht deshalb der Zug in die dunklen Unterströmungen, dem sich die Robert Burton-Übersetzung aus dem nämlichen Jahr ebenso verdankt wie der Essayband Ansichten vom Großen Umsonst (1991) und der Versuch über ein angeschwärztes Gefühl (2012). – Klaus Steintal“

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2022/23: In der Manuskriptversion vom Juli 2022 trägt der Band Vom Auffinden des Flugschreibers (2023) noch den Titel Das Buch Zuviel und andere leere Versprechungen. Hier wird die zweite Abteilung von einem Aphorismus Klaus Steintals eingeleitet: „Schon mit verkeifter Zunge: Probelügen beim Gevatter“. Im dann veröffentlichten Buch findet sich allerdings keine Spur des Doppelgängers mehr.

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2024: Mit dem von Klaus Steintal verfassten Manuskript Endlich Oberwasser liegt ein Text vor, in dem Steintal den Versuch unternimmt, sich von Horstmann zu befreien: „Die Stunde des Exorzismus, des Abstreifens der Fesseln, des Zurückbiegen des Fluches auf seinen Urheber ist gekommen. Ich, Klaus Steintal, bin so frei, mich aus der Fron zu entlassen, versetze den Coup de grâce, erzähle meinen eigenen Geschichten (…).“ Doch der Umsturzversuch scheitert, Horstmann triumphiert: In einem Altpapiercontainer stoßen Steintal und zwei Horstmanns Werk entsprungene Gefährten auf einen surrealen Mahlstrom, in dem sich der sich in Auflösung befindliche Horstmann – „ein Torso wie seine Werkausgabe“ – zusammen mit seinen literarischen Restbeständen kreist und in der „Ausweglosigkeit hochfahrender Wiederkehr“ die Oberhand behält.

 

[1] Diese Quelle hat der Wiener Publizist Bernhard Kraller erschlossen.